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Die Lehre des Lebens
   


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Eine Erzählung über die erlebten schweren Jahre des 2. Weltkrieges,
die anschließende Gefangenschaft im fernen Sibirien
und die gewonnenen Erkenntnisse für das weitere Leben
von

Günther Lange.

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DRITTER TEIL

Nach 10 Tagen Ruhe und Entspannung muß er sich in Schweidnitz in Schlesien melden. Neue Einheiten werden in Eile zusammengestellt und Anfang September rollt bereite ein Transportzug wieder an die Front. Inzwischen haben die deutschen Truppen die Insel Krim geräumt und halten bei Cherson am Dnepr die Stellung. Hier soll versucht werden, den Vormarsch der russischen Truppen endgültig aufzuhalten. In notdürftig ausgebauten Erdbunkern wird der folgende Winter so recht und schlecht überstanden. Heftige Gefechte und Perioden der Ruhe wechseln sich ab.

Anfang April 1944 wird der Druck der russischen Truppen so stark, daß an einigen Abschnitten die Verteidigungslinie durchbrochen wird. Am 10. April 1944 kommt der Befehl zum Räumen der Stellung. Wieder fluten auf allen Straßen und Wegen Marschkolonnen in Richtung Westen. Täglich belegen russische Flugzeuge die marschierenden Kolonnen mit Bomben. Über Nikolajew, Odessa und Galati wird nach 4 Monaten unbeschreiblichen Strapazen Rumänien erreicht. Ziel ist es, über den Predeal-Paß die Karpaten zu über winden, um so nach Ungarn zu beiden Seiten der Marschroute liegen umgestürzte deutsche Militärfahrzeuge und abgeschossene Panzer. Hier haben bereits in den vergangenen Tagen heftige Kämpfe stattgefunden.

Am 24. 8. 1944 marschiert das Artilienieregiment die steil an steigende Karpatenstraße zum Predeal-Paß bergan. Plötzlich wird der Befehl zum Halten gegeben. Der Predeal-Paß ist bereits von russischen Truppen besetzt, ein Weiterkommen ist unmöglich. Ein heilloses Durcheinander ergreift alle Truppenteile. Da kommt der Befehl: "Alles stehenlassen, Soldaten und Verwundete schnellstens auf die wenigen motorisierten Fahrzeuge verladen, in einer halben Stunde geht die Fahrt nach Süden in Richtung Bulgarien.". Alle Fahrzeuge sind überfüllt. Selbst außerhalb der Bordwände stehen Soldaten auf Ketten und halten sich mit den Händen an der Bordwand fest. Über 24 Stunden gibt es schon nichts zu Essen und zu Trinken. Unerbittlich brennt, wie die Tage vorher, die heiße Augustsonne vom wolkenlosen Himmel. Beim Durchfahren der ersten größeren rumänischen Siedlung schießt es aus Keller- und Dachbodenfenstern. Rumänien hat kapituliert und Deutschland den Krieg erklärt. Soldaten fallen getroffen über die Bordwände der Lkws und werden von den folgenden Fahrzeugen zermalmt. Verwundete stöhnen vor Durst, doch es gibt kein Halten. Die 400 Kilometer bis an die Donau an die Südgrenze Rumäniens müssen durchgehalten werden. Nach unvergeßlicher zehnstündiger Fahrt sind die etwa 50 Fahrzeuge fast am Ziel. Bei Calerasi führt eine Brücke über die Donau. Auf dem anderen Ufer liegt Bulgarien, das noch von deutschen Truppen besetzt ist.


Doch welch eine große Überraschung. Als die ersten Fahrzeuge sich der Brücke nähern, werden sie von heftigem MG-Feuer empfangen. Wieder ist die Brücke bereits von russischen Truppen besetzt. Nun gibt es keinen Ausweg mehr. Der General ruft alle Offiziere zu sich, informiert sie vom Stand der Dinge und empfiehlt sich zu ergeben und in russische Gefangenschaft zu gehen. Diese Nachricht wirkt wie ein Dolchstoß. Den Soldaten war Jahrelang eingehämmert worden, daß eine russische Gefangenschaft das Ende des Lebens bedeutet. Gefangene würden unweigerlich erschossen. Etwas anderes gibt es nicht. So bemächtigt in den heißen Abendstunden des 28. 8. 1944 eine Angst und Ausweglosigkeit alle Soldaten. Viele Offiziere gehen in ein etwas seitwärts gelegenes Wäldchen und jagen sich mit der Pistole eine Kugel durch den Kopf. Andere wollen einige Kilometer flußabwärts die Donau durchschwimmen und sich so der Gefangenschaft entziehen. Auch Günther weiß keinen Ausweg. Er geht in das bereits erwähnte Wäldchen, um auch seinem Leben ein Ende zu machen. Doch es gehört viel Mut dazu, dies zu tun. Immer wieder hört er im Innern eine Stimme "Halte durch und suche einen Ausweg". Es ist bereits dunkle Nacht. Ab und zu stürzt in der Finsternis ein Soldat an ihm vorbei. An einer anderen Stelle hört er das Jammern und Klagen Schwerverwundeter. Es ist bereits nach Mitternacht. Günther steht auf, wirft seine Pistole, Stahlhelm und Gasmaske in einen seitwärts liegenden Teich und befreit sich somit von aller Last. Dann sucht er am Himmel den Nordstern und entschließt sich, die 400 Kilometer quer durch Rumänien wieder zurückzulaufen und vielleicht doch einen Weg über die Karpaten in Richtung Heimat zu finden.

Bereits in der ersten Nacht schleicht er etwa 10 Kilometer nordwärts. Überall auf Feldwegen und Straßen bewegen sich russische Truppen in Richtung Donau. Gegen 5.00 Uhr morgens beginnt es zu dämmern. In einem großen und dichten Maisfeld will er etwas ruhen und schlafen. Wenn es dann dunkel wird, beginnt wieder der gefahrvolle Marsch nach Norden. Um seinen Hunger zu stillen ißt er die noch nicht reifen aber saftigen Maiskolben. Die Sonne geht am Horizont unter. Langsam und immer sichernd bewegt er sich vorwärts. Da zieht sich eine breite und bewegte Fernverkehrsstraße von West nach Ost. Seine Hauptrichtung ist jedoch Norden, so muß Günther diese Straße unbedingt überqueren. Hausgrundstücke stehen beiderseits der Straße und ein Truppentransport nach dem anderen rollt gen Westen. Im Dunkeln der Nacht kriecht Günther bis unmittelbar an die Straße und bleibt am Straßenrand in Deckung liegen. Wenn einmal eine Lücke zwischen den russischen Kolonnen sichtbar wird, dann gilt es, die Straße zu überqueren. Aber ein Fahrzeug nach dem anderen rollt an ihm vorüber. Fast 1 Stunde liegt er nun schon sprungbereit hinter einen kleinen Gestrüpp, unmittelbar an der Straße. Da endlich zeigt sich ein etwa 100 Meter großer Abstand zwischen den Fahrzeugen. Er springt in großen Sätzen über die Straße und bewegt sich schnell weiter in nörlicher Richtung. Doch was ist das? Der Boden ist weich und beweglich unter seinen Füßen. Sicher nur ein sumpfiges Wiesenstück wird es sein, kommt ihm in den Sinn. Doch bald versinkt er bis an die Knie im tiefen Morast. Je mehr er sich mit den Beinen bewegt, desto tiefer zieht ihn das Moor in die Tiefe. Ein Vorwärtskommen ist hier nicht möglich. Er muß versuchen wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Über 1 Stunde kämpft er um Leben oder Tot. Der Ast einer im Morast stehenden Weide ist sein Retter. Zentimeter um Zentimeter kann er seine Stiefel aus der schlammigen Masse herausziehen. Endlich hat er es geschafft. Bis an die Schultern mit Schlamm überzogen hat er endlich wieder festen Boden unter den Füßen. Lange verweilen kann er nicht, denn es ist sein Ziel, bis sich am Horizont wieder der Morgen zeigt, mindestens 30 Kilometer in nördlicher Richtung vorwärts zu kommen. Unweit der überquerten Straße läuft Günther westwärts und findet endlich einen kleinen Feldweg, der in Richtung Norden führt. Völlig durchnäßt beginnt er bald heftig zu frieren, denn die Nächte sind bereits sehr kühl. Gegen 4.00 Uhr morgens entdeckt Günther wieder ein großes Maisfeld. Hier entschließt er sich, den kommenden Tag zu verbringen. Nur als Nahrung die nicht ausgereiften Maiskolben, das ist Magen und Darm sehr schlecht bekommen. Ein Stück festes Brot müßtest du haben, so geht es durch seinen Sinn. Die Sonne steht bereits wärmend am Himmel. Da rattert ein rumänischer Bauer mit Panjewagen und 2 Pferden am Maisfeld vorüber. Noch ein Stück weiter hält der Wagen an. Der Bauer spannt die Pferde an einen Pflug und beginnt seine tägliche Arbeit. In Deckung des Wagens schleicht sich Günther an das Fahrzeug, sieht die Frühstückstasche des Bauern, erfaßt sie und verschwindet wieder im Maisfeld. Ein großes Stück Mamilika (Maisbrot) und ein starkes Stück Speck, das ist die Ausbeute. Begierig wird Beides hastig verschlungen, denn Hunger tut wahrhaftig weh.

So vergehen mit den verschiedensten Erlebnissen die folgenden Nächte und Tage. Über eine Woche ist Günther nun schon unterwegs. Wieder ist er in den Nachtstunden auf seinem Weg in Richtung Karpaten. Da überquert er zufällig ein großes Melonenfeld. Wie Kürbisse liegen hunderte von reifen Melonen auf dem großen Feldstück. Schade, eine kann er leider nur mitnehmen, denn große Lasten sind auf dem noch weiten Weg nicht zu transportieren. Um eine große Frucht wird das Taschentuch geknotet, nur kann die Melone einigermaßen mitgenommen werden. Am Ende des Feldes wird in der Dunkelheit eine langgestreckte Geländevertiefung sichtbar. Drei Bahngleise behindern seinen Weg nach Norden. Wieder schleicht sich Günther bis an die Schienen heran und lauscht auf etwaige Geräusche. Es herrscht jedoch eine eisige Stille. Mit seiner Melone in der Hand springt er in großen Sätzen über die Schienenstränge und schwingt sich über einen eineinhalb Meter hohen Steinzaun. Plötzlich ertönt das Schrillen mehrerer Trillerpfeifen. Drei berittene, sicher rumänische Soldaten galoppieren am Zaun entlang, hinter dem sich Günther flach auf den Boden gepreßt hat. Als sich das Klappern der Hufe entfernt, flüchtet er nach allen Seiten sichernd aus dem mit Zaun umgebenen Grundstück. Als es wieder im Osten dämmert und Günther in einem großen Maisfeld verschwindet, suchen 3 Flugzeuge das an der Bahnlinie gelegene Gelände ab. Auch über dem Maisfeld drehen die Flugzeuge ihre Runden. Günther hat sich mit Maisblättern sicher getarnt, so können sie ihn nicht entdecken. Als wieder Ruhe eintritt, ißt er begierig ein großes Stück seiner mitgenommenen Melone.

Wenn das Dunkel der Nacht mit den leuchtenden Sternen hereinbricht, heißt es wieder aufzubrechen und ein Stück den Karpaten näherzukommen. Nach 20 Tagen anstrengendem Marsch mit weiteren vielen Hindernissen geht die unendliche Ebene zu Ende.

Die Südausläufer der Karpaten geben der Landschaft ein anderes Gepräge. Im Morgengrauen bemerkt Günther, daß an den Südhängen unendlich weit Weinberge angelegt sind. Er findet in einem Lattenzaun ein Loch und schon hängen große zuckersüße Weintrauben in Hülle und Fülle. Ermüdet durch die lange Nachtwanderung legt er sich unter eine riesige Traube und ißt in aller Ruhe eine Beere nach der anderen. Der Schlaf überkommt ihn. Plötzlich wird er von Menschenstimmen wach. Die Sonne steht bereits hoch am Himmel und überflutet die Landschaft mit ihren warmen Strahlen. Etwa 50 Meter oberhalb von ihm haben rumänische Weinbauern mit der Weinernte begonnen. Auf allen Vieren kriecht er den Weinberg abwärts und macht sich durch das Loch im Zaun schnellstens aus dem Staube. Im Gestrüpp einer Talsenke hält er Ausschau nach einem günstigen Fleckchen und versucht den unterbrochenen Schlaf fortzusetzen.

In den Bergen ist es jetzt ein Vorwärtskommen querfeldein, wie in der weiten Donauebene, nicht mehr möglich. Dichte Wälder, fast undurchdringliches Gestrüpp, Weinberge, Gärten und Siedlungen versperren den Weg in Richtung Hochkarpaten. So bleibt nichts anderes übrig, als sich an feste Straßen und Wege zu halten. In den Nachtstunden werden Ansiedlungen durch eingeteilte Patrouille bewacht und eine laut bellende Meute von Hunden verfolgt Fremde, die in nächtlicher Stunde das Dorf durchqueren. So bleibt nichts weiteres übrig, als am Tage zu marschieren und nachts in irgendeinen Versteck zu kampieren.

Bereits am 2. Morgen des vorgenommenen Tagesmarsches fällt Günther mit seiner sonst nicht üblichen Bekleidung auf. Seine langen Stiefel, die Reithose und das über den Oberkörper gestreifte graue Unterhemd sind kein alltägliches Bild in rumänischen Dörfern. Noch nicht eine halbe Stunde unterwegs nähert sich am Anfang eines Karpatendorfes mit riesigen Schritten von hinten ein Zivilist. Als er Günther erreicht, spricht er ihn mit rumänischen Lauten an. Günther versteht kein Wort und läuft weiter. Da faßt der Zivilist ihn am linken Ärmel und zieht ihn in eine abzweigende Gasse. Am Ende des Weges etwas alleinstehend liegt zwischen hohen Bäumen ein so richtig typisches rumänisches Bauernhaus. Ohne ein Wort zu sagen muß Günther dem Zivilisten in dieses Haus folgen. Nur mit Bewegungen ohne viel Worte verständigen sich beide. Günther muß sich waschen, dann verpaßt ihn der Rumäne Zivilklamotten echt rumänischer Art. An die Füße zieht er ihm "Opintchen" eine aus Pferdeleder zusammengezogene rumänische Fußbekleidung, ein paar schwarze zerrissene Hosen, ein altes kaputtes Leinenhemd, eine schwarze Jacke mit nur einem Ärmel und einen schwarzen Krempenhut. Die Reitstiefel und die mit lederbesetzten Reithosen verschwinden im Wohnzimmerschrank des Rumänen. Günther erhält zu Essen und als es Abend wird, bringt der Zivilist ihn in eine große und vornehme etwa 2 Kilometer entfernte Villa. "Was soll das alles bedeuten?", fragt sich Günther. In der Villa begrüßt ihn ein großer schlanker Herr, etwa 50 Jahre alt, mit deutschen Worten. Der rumänische Zivilist ist verschwunden und Günther erfährt nun die näheren Zusammenhänge.

Der Herr des Hauses ist Direktor einer Erdölraffinerie, die zum Ölgebiet von Ploesti gehört. Sein Name ist Schlopp. Er ist gebürtiger Deutscher, in Nürnberg geboren, und lebt seit 30 Jahren hier in diesem Karpatendorf. Bald fühlt sich Günther wie im Schlaraffenland. Ihm wird ein warmes Bad bereitet, die Frau des Direktors brutzelt für den Ankömmling ein Brathähnchen und stellt eine riesige Schale mit Weintrauben, Obst und Bananen auf den Tisch. Der Hausherr bittet Günther, sich einmal richtig satt zu essen. Dann jedoch erzählt der Hausherr, daß Günther nur eine Nacht bleiben kann. Es ist bekannt, daß Herr Schlopp deutscher Abstammung ist und wird daher seit Wochen streng bewacht. Günther muß schnellstens das Haus wieder verlassen. So unterbreitet Herr Schlopp folgenden Vorschlag. Etwa 25 Kilometer von hier mitten in den Karpaten liegt das kleine Dorf Berdea. Hier wohnt der Kleinbauer namens Petre Stantiu. Dieser hat über 20 Jahre im Betrieb des Herrn Schlopp gearbeitet. Petre wird schon einen Weg finden, Günther unterzubringen. Mit einem Brief, einer genauen Lageskizze, einem kleinen deutsch-rumänischen Wörterbuch und ein paar gut geschmierten Broten macht sich Günther am nächsten Morgen in seiner zerlumpten Kleidung auf den Weg, bevor er sich herzlichst für die Bewirtung und Unterstützung bedankt hat. Schnellen Schrittes passiert er bei sonnigem Herbstwetter, es ist inzwischen Anfang Oktober 1944 geworden, die ersten 2 aneinander liegenden Dörfer. Dann biegt er links ab in ein tiefes Tal und folgt wie beschrieben über 10 Kilometer einem fast ausgetrockneten Flußlauf. Jetzt müßte bald das Dorf Berdeà kommen. Der Fluß macht noch eine kleine Biegung und schon werden die ersten Häuser sichtbar. Das 4. kleine Bauerngehöft müßte das von Petre Stantiu sein. Immer in Deckung liegt Günther mindestens über eine halbe Stunde etwas seitwärts der Dorfstraße. Hoffentlich ist in dem Gehöft mal jemand zu sehen. Da kommt eine ältere Frau aus dem Wohnhaus und geht mit 2 Eimern zu dem im Hof stehenden Brunnen. Diese Frau mußt du jetzt unbedingt ansprechen, denkt sich Günther. Er geht über die Straße direkt auf den Bauernhof zu. Die Frau hört auf, das Wasser zu pumpen und sieht den komischen Fremden mit starrem Blick an. Unde est Petre Stantiu (wo ist Petre Stantiu) fragt Günther, so wie es Herr Schlopp ihm beigebracht hat. Die Frau überschüttet den Fremden mit einem Schwall rumänischer Worte und zeigt dabei auf das hinter dem Brunnen stehende Scheunengebäude. Günther hat wiederum kein Wort verstanden. Aus der Scheune kommt zugleich ein großer breitschultriger Mann mit schwarzem Haar und großem Schnauzbart. Günther geht auf ihn zu und sagt "Est Petre Stantiu?" Der etwa Fünfzigjährige nickt mit dem Kopf. Günther überreicht ihm den Brief, den ihm der Direktor der Ölraffinerie mitgegeben hat, Petre gibt dem Fremden ein Zeichen, mit in das Wohnhaus zu kommen. Dann sucht er seine Brille und liest mit leichtem Gebrumm die übergebenen Zeilen. Bedenklich kratzt er sich hinter den Ohren und ließt das Schreiben nochmals von vorn. Nach einer kurzen Absprache mit seiner noch im Hof stehenden Frau reicht er Günther ein Stück Mamelika (in Wasser gekochter Maisbrei), eine reife Tomate und bittet mit einer Handbewegung etwas zu essen. Günther atmet auf, denn wieder ist eine Etappe seines noch weiten Marsches bis in die Heimat verwirklicht.

Am Abend schläft der Fremde auf einer Holzbank in einem Nebenraum.

An viel Schlaf ist natürlich nicht zu denken. Noch im Morgengrauen spannt Petre seine 2 Ochsen vor einen zweirädrigen Karren, der fremde muß darauf Platz nehmen und schon beginnt die Fahrt meistens immer bergauf, teilweise über Serpentinen in die immer höher werdenden Berge der Karpaten. Wieder scheint die warme Herbstsonne, die jedoch kalten Nächte haben die herrlichen Mischwälder vom blassen Gelb bis zum dunklen Rot gefärbt. An einem mit Pflaumenbäumen bewachsenen Südhang schüttelt sogar ein zottiger Braunbär die süßen Früchte. Nach fast dreistündigem Geholper über teils ausgewaschene Bergwege erscheint auf einer kleinen Waldwiese ein kleines Häuschen, hinter dem dichter Wald emporragt. Petre steuert mit seinem Ochsenwagen dem Häuschen zu. Hier oben, weit entfernt von Siedlungen, hütet sein jetzt 14jähriger Sohn namens "Lika" die 25 Schafe des Bauern. Die Hütte ist kaum 6 Quadratmeter groß. Die Wände bestehen aus Holzpfählen und geflochtenen Ästen, die Innen und Außen mit einer Mischung von Lehm, gehäckselten Stroh und Kuhmist verschmiert sind. Innen steht lediglich ein aus Ästen gebautes Bettgestell mit einer wenige zentimeterdicken Heuschicht bedeckt. Vor dem Bett befindet sich eine etwa 40 Zentimeter hohe Kochstelle aus Lehm mit Rauchabzug. Die Wände sind mit weißer Kalkbrühe getüncht. In Richtung Süden läßt ein kleines etwa 20 Zentimeter im Quadrat großes Fenster etwas Licht in den kleinen Raum. An der Nordseite der Hütte schließt sich für die Nachtstunden ein überdachter Pferch für die Schafe an. Hier oben in den Bergen gibt es noch viele Wölfe, die schon so manches Schaf gerissen haben. Der Sohn Lika ist ein schmächtiger aber freundlicher Bursche. Petre sieht nach ob alles in Ordnung ist. Nach kaum einer Stunde Aufenthalt verabschiedet er sich von seinem Sohn und gibt Günther ein Zeichen hier in den Bergen bei den Schafen zu bleiben.

Am Abend machen sich beide, Günther und der Sohn Lika, in dem kleinen behelfsmäßigen Ofen ein warmes Holzfeuer, kochen sich aus Maismehl den schon erwähnten Mamelika. Mit einem Zwirnsfaden werden dann einzelne Scheiben abgetrennt. Entweder rohe Zwiebeln, Tomaten oder rohes eingeschnittenes Weißkraut ergänzen die Mahlzeit. Das lodernde Feuer wirft einen hellen Schein an die weiße Wand des kleinen Raumes. Doch was ist das, auf der Wand bewegen sich kleine schwarze Punkte auf und nieder? Aus Spalten der trockenen Lehmwand kriechen zu hunderten große und kleine Wanzen heraus. Beide, Günther und Lika, legen sich dann nebeneinander auf das Bettgestell und decken sich mit einer alten zerrissenen Pferdeplane zu. Das Feuer ist erloschen und schon beginnen die Wanzen ihr nächtliches Spiel. Sie kriechen bis an die Decke und lassen sich dann auf die 2 Ruhenden herunterfallen. Saugen sich an irgendeiner Stelle der Haut fest, ziehen sich voll Blut und verkriechen sich wieder in den Spalten der Wand. Günther findet in der ersten Nacht keine Ruhe. Sein Körper brennt und zwickt an allen Ecken. Jedoch Lika schläft den Schlaf des Gerechten, er hat sich bereits an das furchtbare Ungeziefer gewöhnt.

Tagsüber werden die Schafe gehütet, es wird Feuerholz aus dem Wald geschleppt und an einem mit Pflaumenbäumen bewachsenen Hang muß ein neuer Zaun aus selbst angefertigten Pfählen und Ästen geflochten werden.

Eintönig verläuft ein Tag wie der andere. Beide können sich nur mit Zeichensprache verständigen, denn die Sprache des anderen kennt keiner.

Mitte November 1944 hält plötzlich ganz unerwartet der Winter Einzug in den Bergen. Es fallen etwa 10 Zentimeter Schnee und die Temperaturen sinken nachts auf mehrere Frostgrade. Jetzt ist die Zeit gekommen, um mit den Schafen ins Tal zu ziehen und diese im Stall des väterlichen Hofes in Berdeà einzustallen. Lika verabschiedet sich von dem fremden Deutschen und verläßt die Einsamkeit der Berge. Günther bleibt nun keine andere Wahl, als mutterseelenallein hier oben in der Berghütte sein Leben zu fristen. Tiefster Winter hat inzwischen Einzug gehalten. Bei Schnee und Kälte weiter zu marschieren, das ist unmöglich. Der Bauer Petre hat ihm ja zugesagt, Günther mit Essen zu versorgen.

Tagsüber sucht sich Günther aus dem Wald dürre Äste und Bäume, damit ein kleines Feuer den winzigen Raum der Berghütte erwärmt. Wenn dann im Schein des Feuers die Wanzen ihren Nachttanz beginnen, zerdrückt er so viel als möglich an der weiß getünchten Wand. Bald hat sie einen gefleckten roten Schein. Zu allem Übel haben sich auch noch Kleiderläuse eingestellt. Jeden Morgen werden die Nähte von Hemd, Hose und Jacke nach Läusen bzw. deren Nüssen (Eier) abgesucht und mit den Daumennägeln zerdrückt. Nur so kann diesem Ungeziefer beigekommen werden.

Günther nimmt öfters das deutsch-rumänische Wörterbuch zur Hand, das ihm Direktor Schlopp mitgegeben hat. Die rumänische Sprache ist dem Latein sehr ähnlich, denn beide gehören zur Gruppe der romanischen Sprachen. Da auf der Oberschule einige Jahre Latein gelehrt wurde, fällt es ihm gar nicht so schwer, die rumänischen Begriffe so wie die Grammatik einigermaßen zu erlernen.

Im Abstand von 8 bis 10 Tagen kommt der Bauer Petre in die Berge und bringt etwas Maismehl, einen Weißkohlkopf und ab und zu auch einen kleinen Streifen Speck. Nach einem kurzen Aufenthalt steigt er durch den tiefen Schnee wieder talwärts.

Nachts schleichen Wölfe um die einsame Hütte. Wenn der Mond die weißen Berghänge mit seinem faden Licht erhellt, sind vom kleinen Stubenfenster aus bis zu 8 Stück dieser blutdürstigen Gesellen auszumachen. Günther besitzt leider keine Waffe mehr, so muß er es meiden, nachts die Hütte zu verlassen.

Eintönig vergehen die Tage. ,,Ist noch immer Krieg, was machen die Angehörigen und wie wird es weitergehen!", das sind Fragen, die Günther oft bewegen. Die Monate November bis März 1945 vergehen in Windeseile. Ein Tag gleicht dem anderen. Die schlechtesten Monate sind jedoch überwunden. Bald wird der Frühling seinen Einzug halten. In den zeitigen Morgenstunden ziehen bereits keilförmig in kurzen Abständen schreiend Kraniche über die Karpaten nordwärts. "Ja, mit diesen müßtest du mitfliegen können!", das bewegt Günthers Gedanken.

Mitte April ist an den Südhängen der Karpaten der Schnee geschmolzen und durch die warme Sonne leuchtet bald das erste Grün. Günther hat inzwischen einigermaßen rumänisch gelernt, so kann er sich endlich etwas mit Petre verständigen. Der Bauer macht ihm klar, daß noch immer der Krieg tobt und Günther hier in den Bergen am besten aufgehoben ist.

Bald kommt der Sohn Lika mit den Schafen wieder aus dem Tal zurück. Günther schnitzt sich eine Flöte und so verbringt er täglich viele Stunde als Schafhirt. Niemand in der Heimat würde ihn in seiner Aufmachung jetzt wiedererkennen. Im Juli 1944 hatte er das letzte Mal die Möglichkeit, seine Haare schneiden zu lassen und sich zu rasieren. Inzwischen reicht das rotblonde Haar bis auf die Schultern und ein mindestens 20 Zentimeter langer kupferroter Bart ziert das hagere Gesicht.

Der Frühling eilt in dieser Bergeinsamkeit wie im Fluge dahin. Ende Mai bittet er den Bauern Petre, ihm doch einmal eine Zeitung mit in die Berge zu bringen. Jedoch immer, wenn er entweder zu Fuß, oder mit seinem Ochsengespann die Hütte erreicht, hat er die Zeitung sicher absichtlich vergessen. Wie schön wäre es für Günther gewesen, sein erlerntes Rumänisch zu erweitern und zu gleich Näheres über den Krieg zu erfahren.

Günther arbeitet tüchtig und tut alles, was ihm gesagt wird. Selbst Lika freut sich, einen Fremden anstellen zu können. Es werden Bäume gefällt, Pfähle geschnitten, Zäune ausgebessert, Schafe geschoren usw.. An den Hängen wird mit einer alten Sense Gras gemäht, um für den Winter das nötige Heu für die Schafe zu haben. Das Leben ist zwar abwechslungsreicher geworden, doch bedrückt Günther wie ein Alpdruck das Weltgeschehen und das Schicksal der Heimat und seiner Lieben.

Endlich Anfang September 1945 (4 Monate nach Kriegsende) bringt Bauer Petre eine Zeitung mit. Günther versucht die in großen Lettern ausgedruckten Überschriften zu entziffern. Immer wieder wird vom Ende des Krieges geschrieben. Zitternd hält er das Stück Zeitung in der Hand. Er wendet sich an Petre und seinen Sohn, ihm endlich die Zusammenhänge klarzumachen. Es bleibt ihm fast das Herz stehen, denn Deutschland hat bereits im Mai des Jahres kapituliert. Die Waffen ruhen und es herrscht wieder Frieden. Für Günther gibt es nun kein Warten mehr. Vater und Sohn macht er klar, daß am nächsten Morgen sein Marsch in die Heimat beginnt. Beide sind zwar über den schnellen Entschluß überrascht, können aber die Reaktion verstehen.

Am nächsten Morgen verabschiedet sich Günther von Vater und Sohn. Dankt ihnen für das sicheren Versteck und für die Rettung seines Lebens. Mit kaputter Hose, zerrissener Jacke, einem schwarzen Krempenhut und Opintchen an den Füßen so wie schulterlangen Haaren und rotem Vollbart macht er sich auf den Weg.


Das erste Ziel, das er ansteuern will, ist der Direktor der Ölraffinerie. Er kann ihm sicher die Lage in der Welt und in Deutschland richtig erläutern. Wieder läuft er den Flußlauf in entgegengesetzter Richtung zurück. Durchquert als echter Rumäne mit großen Schritten in den Nachmittagstunden Siedlungen und Dörfer und verkriecht sich am Waldrand oberhalb der Villa des Direktors, die ihn vor fast einem Jahr für einen Tag aufgenommen hatte. Ist Herr Schlopp als gebürtiger Deutscher noch in seiner Funktion? Das ist die große Frage. Von seinem Versteck aus kann er das Wohngrundstück genau übersehen. Jemand von der Familie des Direktors, müßte doch einmal auszumachen sein. Aber Fremde gehen in der Villa ein und aus. Von der sehr hilfsbereiten Familie ist niemand zu entdecken. Bald bricht die Dämmerung herein und so bleibt Günther nichts weiteres übrig, als die Nacht in seinem Versteck zu verbringen. Die Nacht ist verhältnismäßig sehr kühl. In einer Bodenmulde mit etwas Laub ausgepolstert kann er jedoch kaum Schlaf finden. Günther entschließt sich, so bald es hell wird, die Bergkuppe zu verlassen. Vielleicht gibt es im Dorf eine Möglichkeit, etwas über die Familie Schlopp zu erfahren. Gegen 5.00 Uhr morgens bricht der Tag an. Die leuchtenden Sterne am Himmel verblassen und im Osten hebt sich langsam mit rotem Schein die Sonne über die Bergkuppen. Günther bricht auf und steigt in einer schmalen Waldschneise abwärts. Plötzlich kommen ihm 2 Zivilisten entgegen. Ein Flüchten hat keinen Sinn mehr. Ruhigen Schrittes geht er auf die 2 Männer zu und grüßt auf Rumänisch mit einem "Guten Morgen!". Doch der langhaarige und bärtige Geselle scheint auf sich aufmerksam gemacht zu haben. Die Beiden bleiben stehen und überschütten ihn mit einer Fülle von Fragen in rumänischer Sprache. Günther stammelt in gebrochenem Rumänisch einige Sätze. Doch dann ist es geschehen. Die Beiden, mit Gewehr und Pistole bewaffnet, halten Günther fest und binden ihn mit einem dünnen Seil auf dem Rücken die Hände zusammen. Einer geht voraus und hinter Günther läuft der Zweite mit schußbereitem Gewehr. Sie erreichen das Dorf und gehen auf fester Straße südwärts. Kommen Leute vorbei, dann erzählen die beiden Waldhüter, einen Verbrecher gefangen zu haben.

 
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  Erstellt am 19.02.2007