Interview Dramaturgin Esther Holland-Merten mit dem
Regisseur Dieter
Boyer
Esther Holland-Merten:
Dieter, Du bist Österreicher und Du inszenierst den Text einer
österreichischen Autorin, der Text jedoch bezieht sich explizit
auf deutsche Geisteseinschreibungen. Was ist daran für Dich die
Herausforderung?
Dieter Boyer:
Die Frage finde ich seltsam, ist es denn wichtig, dass ich Österreicher
bin, darf man nur als Deutscher über Deuts...chland nachdenken?
Mein Österreicher sein ist doch reiner Zufall. Außerdem Leide
ich ja als Österreicher auch an ganz furchtbaren nationalen Geisteseinschreibungen.
Wir teilen ja auch alle dieses letzt Jahrhundert, das weltweit als das
Jahrhundert des Genozids und des nationalen Wahns in die Geschichte
eingegangen ist.
EHM:Als
Regisseur legst Du Deinen Inszenierungen auch immer einen theoretischen
Denkansatz zugrunde. Welchen hast Du "Wolken.Heim" vorangestellt?
DB:In der Vorbereitung habe ich mich intensiv mit Interkulturalität
beschäftigt. Vor allem mit Geert Hofsteedes "Lokales Denken,
globales Handeln". Was ist Kultur, (harte und weiche Faktoren der
Kultur bzw. Nation) was ist eine Nation, wie schreibt sich etwas über
Generationen in Gesellschaften ein, ohne, dass der einzelne viel Macht
darüber zu haben scheint. Das waren teilweise recht frustrierende
Erkenntnisse. Die Macht einer Geistestradition unterschätzt man
leicht und überkommt man nur schwer. Da wird so ein Text dann zum
Auftrag.
EHM:
Jelineks Textcollage ist in erster Linie eine Textfläche, ein geradezu
monolothischer Textberg, den Du in Deiner Inszenierung szenisch auflöst.
Welche inhaltlichen Implikationen haben Dich zu dieser formalen Lösung
geführt?
DB: Jelinek hat den Text ja schon mal in 24 Abschnitte eingeteilt
und dieser Einteilung folge ich weitgehend. Ich wollte für jeden
Text am besten mehrere Möglichkeiten herstellen ihn überhaupt
einmal sprechbar zu machen, von vielem denkt man ja erst mal gar nicht,
dass es irgendwer mal so gesagt und gedacht haben könnte - ist
aber so.
Das bedeutet also Haltungen und Gedanken zu finden die es uns möglich
machen den Text zu sprechen ohne ihn zu denunzieren, ohne die vermeintlichen
oder vermutlichen Sprecherinnen zu persiflieren, zu verniedlichen oder
zu verulken. Das erschiene mir angesichts bei der historischen Dimension
des Themas einfach unpassend, weil an dieser Idee haften unendliches
Leid und Millionen Tote.
EHM: Du verortest
den Text in einen Jahrmarkt, der deutsche Mythen und bildliche Fragmente
deutscher Geschichte zitiert. Woher kam die Idee zu diesem Bühnenraum?
DB: Ein Jahrmarkt gibt nicht vor Wirklichkeit zu repräsentieren,
ein Jahrmarkt lebt von der Ideenwelt - so wie sich auch Jelinkes Text
mit einer Ideenwelt auseinandersetzt und die Praxis dieser Ideenwelt
völlig außen vor lässt.
Ich habe mich dann gefragt, was für Ikonen des "Deutschen"
es gibt. Da gibt es Dichter, Denker, Staatsmänner, Mythen und Symbole/Logos
die von Innen oder Außen gesehen "deutsch" sind. Die
Frage war die nach den Symbolen die repräsentieren und die nach
den Helden die den Mythos des "Deutschseins" verkörpern
- irgendwo lassen sich da vielleicht die Werte erkennen die all dem
zu Grunde liegen, vielleicht lassen sich auch die kulturellen Praktiken
daraus lesen.
EHM: In Deiner
Inszenierung entscheiden letztendlich die Zuschauer, was sie sehen wollen,
also wie ihr Abend jeweils aussieht. War dies eine inhaltliche oder
formale Entscheidung?
DB: Das war ganz klar eine inhaltliche Entscheidung! Ich kann
kein komplettes Bild abgeben, scheitere auch nur im Versuch, die Komplexität
der Thematik, die dieser Text aufwirft erfassen, geschweige vermitteln
zu können. Zuseher werden nicht einmal alles, was wir für
diesen Abend gearbeitet haben, sehen können, und was wir gearbeitet
haben, bedenkt nur einen kleinen Teil dessen was hier Thema ist. Das
mag unbefriedigend sein, aber ich will nicht vorgeben, dass Theater
etwas kann, was es definitiv nicht kann: Lösungen bieten. Wenn
wir gut sind irritieren wir, bringen wir die ZuseherInnen zum nachdenken,
wenn wir sehr gut sind bieten wir Erkenntnismöglichkeiten. Aber
die Erkenntnisse liegen ausschließlich beim Rezipienten, da dürfen
wir unsere Rolle nicht überschätzen.
EHM: Du ziehst
den Bogen der Bezüglichkeit des Textes bis tief hinein in die Gegenwart,
u.a. konkret mit der deutschen Hymne, der DDR Hymne und dem Horst Wessel
Lied. Warum?
DB: Das grauenhafte ist doch, dass sich eine Geistesgeschichte
in eine Gesellschaft einschreibt wie in einen Körper. Da können
die Körper die eine Gesellschaft bilden schon lange tot sein, die
Ideen und Traditionen die sie tragen leben fort in den Körpern
ihrer Nachkommen. So wie im Körper des Einzelnen: ein Mensch von
40 Jahren hat ja keine Zelle mehr im Körper, die er als Teenager
in sich hatte - alles neu, alles ausgeschieden und ersetzt - trotzdem
ist man der selbe Mensch, sagt "ich" zu diesem Teenager-Körper
mit dem man nichts Materielles mehr teilt, definiert sich aus den Erfahrungen
aus seinen Teenagerjahren. So ähnlich scheint es mit Nationen zu
sein. Deswegen hier die Hymnen, sie repräsentieren scheinbar vergangenes
- wären sie alle so vergangen, wäre nicht eine von ihnen heute
verboten. Irgendwas hat sich da also eingeschrieben, was es heute noch
in unseren Körpern gibt.
EHM: Worin
liegt für Dich die Aktualität von Jelineks Text? Besser gefragt:
Worin liegt sie für Dich?
DB: Ich denke so eine Arbeit zu machen ist für mich von
Zeit zu Zeit einfach wichtig. Es gilt wach zu bleiben. Es gilt sich
daran zu erinnern, dass man aus Bequemlichkeit so gerne übersieht
wo sich ausschließende, entwürdigende Geisteshaltungen in
unsere Leben eingeschrieben haben. Es gilt sich selber daran zu mahnen,
dass man Sachen Weitertragen könnte, gegen die man sich einmal
entschieden hat - oder zumindest entschieden haben sollte. Vermeintliche
Sachzwänge und ein Verstecken hinter einer vermeintlichen Ohnmächtigkeit
hat man täglich zu hinterfragen, das ist die Verantwortung die
ich für mich zu tragen habe. Ich will einfach nicht so tun als
läge das nicht in meiner Verantwortung.
Ich weiß das klingt jetzt alles furchtbar moralisch, aber man
kann doch nicht aus Feigheit vor dem mitleidigen Blick seiner Mitmenschen
den Wertediskurs den Radikalen überlassen!
Außerdem geh ich hier jeden Tag, wenn ich zur Arbeit komme, an
Rechtsradikalen vorbei, die ihre Geisteshaltung offen vor sich her tragen.
Dem gilt es eine andere Position entgegen zu stellen. Ich will keine
Scheiß Nazis mehr sehen, verflucht noch mal! So viel Dummheit
ist doch unerträglich! ...
Danke
an Dieter
Boyer für die Genehmigung zur verwendung
dieses Textes !!!
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KRITIK:
Auf einem Jahrmarkt
deutscher Geistesgeschichte
Elfriede Jelineks "Wolken.Heim." auf der Hinterbühne
des Chemnitzer Schauspielhauses - eine ebenso faszinierende wie erschreckende
Performance
Chemnitz.
Nationalismus bewegt sich im Kreis. Kommt nicht voran. Er kann nur bestehen,
indem er sich vom Anderen abgrenzt, um sich dann über das Andere
empor zu heben. Er muss sich seiner selbst immer bewusst sein. Das illustriert
der Theatertext "Wolken.Heim." der österreichischen Literaturnobelpreisträgerin
Elfriede Jelinek und das verdeutlicht dessen äußerst gelungene
Inszenierung am Chemnitzer Schauspielhaus unter Regisseur Dieter Boyer
und Dramaturgin Esther Holland-Merten.
"Da glauben wir immer, wir wären ganz außerhalb. Und
dann stehen wir plötzlich in der Mitte", stellt das Publikum
auf der Hinterbühne fest und findet sich auf einem Jahrmarkt deutscher
Geistesgeschichte wieder. Zwischen Figuren in deutschen Trachten und
Uniformen ist der Besucher Teil einer schillernden und ebenso faszinierenden
wie erschreckenden Performance. Der kunstvolle Text wird gefasst, indem
er fühlbar gemacht, in seiner Form und Kompositionstechnik imitiert
wird. Fügte Elfriede Jelinek Zitate von Hölderlin, Hegel,
Heidegger, Fichte, Kleist und aus Briefen der RAF zu einer Collage zusammen
und ließ diese in dem chauvinistischen Monolog eines "Wir"
miteinander verschmelzen, so wirken auch die Jahrmarktsfiguren in einer
faschistoiden Sprechsinfonie zusammen. Man spricht allein, zu zweit,
im Chor, fällt sich ins Wort, übertönt sich gegenseitig,
spricht parallel Verschiedenes und wiederholt bereits Gesagtes. Rhythmik
und Musikalität des Textes treten dann gegenüber seinem Inhalt
in den Vordergrund.
Der opulente Sprachstil wird durch das Bühnenbild (Ralph Zeger)
unterstützt. Um ein in der Mitte platziertes Karussell stehen Jahrmarktsattraktionen,
zusätzliche Spielstätten, welche vom Publikum wahlweise besucht
werden können. Alle werden gleichzeitig bespielt, in Dialogen,
die den Text, dessen äußere Form keinerlei dramatische Eigenschaften
hat, in Szene setzen, ihn dem Alltag näher bringen. Entscheidungen
treffen zu dürfen bedeutet Freiheit. Doch diese ist hier nur scheinbar
vorhanden, denn keiner kann sich den aus allen Ecken schallenden Versicherungen,
"Wir sind bei uns zuhaus", entziehen.
Die Jahrmarktsattraktionen sind mit deutschen Symbolen, Ikonen und Mythen
bemalt. Diese sind ebenso aus ihrem historischen und ideengeschichtlichen
Kontext gerissen wie die Zitate im Jelinek-Text und dienen lediglich
der Kultivierung des Nationalismus: So steht Hitler neben Kohl, Marx
neben Schopenhauer, Bundesadler neben Hammer und Zirkel. Was anfänglich
plakativ wirkt - wie auch Deutschlandlied, DDR-Hymne und Horst-Wessel-Lied
- offenbart sich bei genauerem Hinsehen als ironisch gebrochen. Deutsche
Philosophen werden als "spitze" oder "sensationell"
eingestuft, deutsche Lieder sind mit Indietronic-Klängen des Musikers
Bernhard Fleischmann unterlegt. Caspar David Friedrichs "Wanderer
über dem Nebelmeer" schaut auf eine palmenbewachsene Paradiesinsel
und sogar die Jelineksche Haartolle findet sich auf dem Kopf einer Figur
wieder.
Während auf der Hinterbühne ein buntes Treiben stattfindet,
sich ein Volk als "das Volk schlechtweg" feiert, deklamiert
auf der Vorderbühne ein Mann (Bernd-Michael Baier) den "Wolken.Heim."-Text.
Er sitzt den ganzen Abend dort, sich endlos wiederholend. Er kommt nicht
voran. Aber er ist bei sich zuhaus.
Sabine
Reichelt, Freie Presse, 04.10.2010
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Im
Bann der Nation
Das Schauspiel Chemnitz macht "Wolken.Heim"
von Elfriede Jelinek zur ebenso irritierenden wie packenden Selbsterfahrung.
Das
Karussell dreht sich. Und bald sind auch die Sinne im Taumel. Denn wir
hören, aber wir verstehen nichts. Worte - ja. Sätze auch.
Nur erscheint das alles wirr. Was schwadronieren die vier Weiber da?
Wieso nickt Susanne Stein so nachdrücklich, während Anett
Sawallisch freundlich lächelnd ihre Runden dreht? Wieso schreitet
Ulrike Euen mit einer so stolzen Haltung umher? Und was treibt Caroline
Junghanns immer wieder in den Lachanfall? Grundsätzlich ist es
Elfriede Jelineks sperriger, fast unzugänglicher Text. Ein Konglomerat
aus den literarischen und philosophischen Äußerungen Hölderlins,
Kleists, Fichtes, Hegels, Heideggers oder der RAF. Da lässt sich
nichts wortwörtlich nehmen, da entsteht nur ein Gefühl. Und
das ist das Irritierende: Wir kommen mit unserem Intellekt nicht weiter.
Dazu verunsichert
die Situation. Regisseur Dieter Boyer bittet alle Zuschauer auf die
Bühne, mitten unter die Schauspieler. Er hat extra einen Jahrmarkt
aufbauen lassen. Eine schöne Scheinwelt, in der jeder frei umherlaufen,
dem permanenten Stimmengewirr aber nicht entfliehen kann. Und so wird
das Publikum hin- und hergerissen. Trotz inhaltsleerer Reden, Floskeln
und einer latenten Deutschtümelei hat das Ganze Magie. Es fesselt.
Also herzlich willkommen in Wolkenkuckucksheim, einem Ort, an dem all
jene zu Hause sind, die sich einen eigenen Reim auf die Wahrheit machen.
So wie die Deutschen bei Elfriede Jelinek. Sie zeichnet sie hoch artifiziell,
zugleich aber auch chauvinistisch. Das Volk der Dichter und Denker versinkt
im kurzen Wir, in der stolzen Behauptung gegen das Fremde. "Wir
sind zu Haus", "Wir sind bei uns", "Wir sind wir"
- werden die Schauspieler immer wieder sagen - und das ist auch alles,
was von dem monolithischen Textblock hängenbleibt. Doch das Gefühl,
das diese Inszenierung mit sich bringt, wirkt lange nach. Weil in den
reichlich 70 Minuten Theater so viel Auseinandersetzung mit der eigenen
Befindlichkeit ist, dass einem der Mund offen stehenbleibt. Und so verwirrt
gehen die Zuschauer dann auch aus dem Saal, während ein Vorleser
noch immer das Wir in Worte fasst - bis das Licht angeht. Wer dann noch
da ist, klatscht.
Jenny
Zichner, Sächsische Zeitung, 04.10.2010
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Im
Bann der Nation
Das Schauspiel Chemnitz zeigt "Wolken.Heim"
von Elfriede Jelinek
Wir befinden uns
mitten in Wolken-Punkt-Heim. Den Kuckuck hat Elfriede Jelinek zwar fliegen
lassen, entführt uns aber trotzdem an einen Ort, wo sich jeder
seinen eigenen Reim auf die Wahrheit macht. Also mitten unter die Deutschen.
Hinein in die Gedankenwelt von Hölderlin, Kleist, Fichte, Hegel,
Heidegger oder der RAF. Und die österreichische Autorin macht das
geschickt. Na klar, wie soll sie auch sonst zu einem Literatur-Nobelpreis
kommen? Aber literarische Texte und Bühnentexte sind eben zweierlei
- und deshalb ist es klasse, dass das Chemnitzer Schauspiel endlich
mal Lust auf Elfriede Jelinek hatte. Der Zeitpunkt könnte nicht
besser sein.
Während nun über die Äußerungen Sarrazins oder
Seehofers diskutiert wird und der Bundespräsident inzwischen nicht
mehr anders kann als regelmäßig zu betonen, dass der Islam
zu Deutschland gehöre, behaupten 14 Chemnitzer Schauspieler ein
chauvinistisches deutsches Selbstverständnis. Ein übersteigertes
Wir-Gefühl im Kampf gegen das Fremde. "Wir sind zuhaus",
"wir sind bei uns", "wir sind wir" wiederholen die
Akteure beinahe trotzig. Und genauso unnachgiebig wirkt dieses Theater-Experiment.
In den 70 Minuten auf der Hinterbühne und selbst Tage später.
Es hinterfragt die Basis unserer Identität, unseres Denkens und
Fühlens.
Regisseur Dieter Boyer lässt als erstes Bernd-Michael Baier ran.
Der hat nur ein Pult und den riesigen Textbrocken, den er da wacker
spricht und doch nicht näher bringen kann. Denn Elfriede Jelineks
Konglomerat aus literarischen und philosophischen Zitaten ist sperrig,
fast unzugänglich. Da lässt sich nichts wortwörtlich
nehmen, da entsteht nur ein Gefühl. Und das wird stärker,
wenn die Zuschauer aus dem Sessel gerissen werden -mitten hinein in
das Gewirr von Stimmen, unmittelbar zwischen die Schauspieler, direkt
auf einen Jahrmarkt der deutschen Geschichte. Mit deutschen Sätzen,
deutschen Köpfen, deutschen Uniformen. Auch deutschen Melodien
wie dem Horst-Wessel-Lied und den Hymnen der DDR und der BRD. Nicht,
dass sich die Worte, Reden, Phrasen, Floskeln, Tautologien nun plötzlich
erschließen, aber sie verdichten sich zu einer latenten Deutschtümelei,
zu einer Zumutung. Was immer die Spieler da sprechen, es klingt nationalistisch,
auch wenn sich kein Satz sinnvoll erschließt. Gerade deshalb aber
sind Gegenargumente nicht möglich und die Zuschauer der Stimmgewalt
des Ensembles ausgesetzt. Eine irritierende Situation. Doch die macht
dieses Theatererlebnis so einmalig. So intensiv. So dringend empfehlenswert.
Jenny
Zichner, Stadtstreicher, 11.2010
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