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Heiner Müller
  "Die Umsiedlerin
oder Das Leben auf dem Lande"
 
Premiere am 10. Januar 2004
     
 
Regie: Manuel Soubeyrand
    Bühne: Jacqueline Hamann
    Kostüme: Jenny Schall


   
   
Mit der "Umsiedlerin" gelang dem Dramatiker Heiner Müller (1929-1995) ein theatergeschichtlicher Wurf, durchaus vergleichbar dem Brechtschen "Baal" oder Büchners "Woyzeck". Müller schildert "das Leben auf dem Lande" gänzlich unmetaphorisch als ein Leben auf dem Lande. Sprachlich und dramaturgisch spannt er dabei einen Bogen von der antiken zur klassischen Dramatik, Sein Thema sind die tiefgreifenden Umwälzungen, die sich in den vierziger und fünfziger Jahren auf dem Boden Ostdeutschlands abspielten und die den einzelnen in ein Geflecht von kaum auflösbaren Widersprüchen einfangen.

In vier Hauptsträngen und einem Epilog, die lose miteinander verknüpft werden, erzählt Müller die Geschichte eines mecklenburgischen Dorfes vom Beginn der Bodenreform bis zur Kollektivierung im Jahre 1960:
1. Das Dorf erhält zwei Traktoren. Diese verändern die Lebensbedingungen der Kleinbauern, sie befreien sie aus der Abhängigkeit von Großbauern. Die ambivalente, taktierende Politik des Bürgermeisters Beutler kostet diesen das Amt.
2. Der Bürgermeister des Nachbardorfes hat Brandstiftung begangen und die Gemeindekasse mitgehen lassen.
3. Die Umsiedlerin Niet ist schwanger, sie emanzipiert sich vom Vater des Kindes, lehnt die ihr angebotene Hilfe ab und übernimmt eine frei gewordene Bauernstelle.
4. Der Parteisekretär Flint betrügt seine Frau, die während seiner KZ-Haft in Treue zu ihm gehalten hat. Er nimmt die missbilligenden Kommentare der Partei und der Dorfbewohner in Kauf. Die Ehe wird geschieden.

   
Jahre später halten Agitatoren der Partei Einzug im Dorf, die Kollektivierung beginnt...

Müllers Stück (Uraufführung 1961) gab Anlass zu einen kulturpolitischen Skandal , der seinesgleichen in der DDR sucht. Die nachfolgende Ächtung des Autors lässt die Tatsache vergessen, dass es sich bei diesem Stück trotz allem oder gerade um eine Komödie handelt. Müller selbst sagte: "Nun ich finde alle meine Stücke relativ komisch. Ich wundere mich, dass diese Komik so wenig bemerkt und benutzt wird. Vielleicht ist die Tatsache, dass die UMSIEDLERIN furchtbar ernst genommen wurde, ein Grund, warum ich danach so eine ernste Maske aufgesetzt habe,"

 
Die Premiere von "Wolokolamsker Chaussee" spielten:
-
Carola Sigg
-
Barbara Ansorg
 
Die Premiere von "Die Umsiedlerin ..." spielten:
Niet, die Umsiedlerin
-
Sabine Fürst
Fondrak
-
Tilo Krügel
Flint
-
Nils Brück
Flinte 1
-
Elvira Grecki
Flinte 2
-
Carola Sigg
Beutler
-
Tobias D. Weber
Rammler
-
Michael Pempelforth
Treiber
-
Jürgen Lingmann
Treibern
-
Anke Fleuter
Kaffka
-
Michael-Paul Milow
Senkpiel
-
Klaus Schleiff
Kupka
-
Frank Höhnerbach
Krüger
-
Stefan Schweninger
Siegfried
-
Jan Ole Sroka
Heinz
-
Özgür Platte *
Schmulka
-
Judith Raab
Erster Traktorist
-
Thomas Kornack*
Zweiter Traktorist
-
Stefan Wancura
Ein Bürgermeister
-
Mathias Noell
Landrat
-
Barbara Ansorg
Pastor
-
Thomas Kornack*
Flüchtling
-
Mathias Noell
 
Statisterie (Leitung: Joachim Streubel): Beutlern (Undine Roßner), Volkspolizist (Werner Sperling), Franz (Joachim Streubel), Bäuerinnen, Bauern,Gespenster
* Studenten der Hochschule für Musik und Theater "Felix Mendelssohn Bartholdy" Leipzig am Studio Chemnitz
 

KRITIK:

Das war unser Leben
"Die Umsiedlerin" im Schauspielhaus Chemnitz

Vom Flugblatt-Verteiler zum Erlasser von Gesetzen, vom Acker ans Schaltbrett - Parteisekretär Flint macht nach dem Krieg sehr schnell Karriere. Flint, Widerstandskämpfer unter den Nationalsozialisten, versucht in seinem kleinen Dorf die Träume, die ihn im KZ am Leben hielten, wahr werden zu lassen. Viel haben sie sich vorgenommen, die Kommunisten: Enteignung, Kollektivierung, Bodenreform, völlige Umwälzung der Gesellschaft. Es wird ihm zu viel, dem armen Flint. Und lange bevor er sich die junge Frau an Stelle der alten nimmt, hat er gezeigt, dass er auch nur ein Mensch ist.

Mit dem 1961 entstandenen Stück "Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande" hat Heiner Müller seine Sicht auf die Anfangsjahre der DDR geschrieben - und ob seines entlarvenden, respektlosen Werks einen handfesten Skandal heraufbeschworen.

Im Schauspielhaus Chemnitz hat Oberspielleiter Manuel Soubeyrand das Werk jetzt zu dem gemacht, was es immer war: eine Komödie mit Tiefgang, aber auch reichlich Klamauk. "Nun, ich finde alle meine Stücke relativ komisch. Vielleicht ist die Tatsache, dass die Umsiedlerin so furchtbar ernst genommen wurde, ein Grund, warum ich danach so eine ernste Maske aufgesetzt habe", zitiert das Theater den Autor.

Heute haben die Zuschauer gut lachen. Ironisch, zuweilen nahezu despektierlich schildert Müller die historischen Gegebenheiten, zeigt die sturen Bauern, die die von oben verordnete Glückseligkeit nicht haben wollten. Er zeigt den Alkoholiker, dessen einzig gültige Währung das Bier ist, den jungen Agitator, der sich doch entschließt, erstmal mit der Dorfschönheit den neuen Menschen zu machen, ehe er selbst zu einem solchen werden kann. Genau und mit einem durchweg überdurchschnittlichen Ensemble hat Soubeyrand die Komik in das wandelfähige Bühnenbild von Jacqueline Hamann gebracht. Die Schauspieler agieren in Jenny Schalls Kostümen, deren Farben man nur als "gedeckt" bezeichnen kann. Um so mehr stechen die blutroten Banner mit "Vorwärts in den Kommunismus" oder "Wir danken der Sowjetunion" ins Auge. Geschickt wird die Drehbühne eingesetzt als Zeichen der Wiederkehr des Immergleichen, das von vornherein viele Blütenträume zerplatzen lässt.

Sternstunden für die Akteure auf der Bühne

Erstaunlich, wie locker, gelassen und gleichzeitig punktgenau die Akteure den Text zu neuem Leben erwecken. Nils Brück als Flint zeigt den Mutigen, der auch nach dem x-ten Rückschlag zu neuer Tat schreitet. Tobias D. Weber als Bürgermeister Beutler gibt den Aufsteiger, der zu größter Selbstbezichtigung anhebt, als seine Felle davon zu schwimmen drohen. Tilo Krügel verhilft als Alkoholiker Fondrak der Inszenierung zu kleinen Sternstunden. Selbst kleinere Rollen sind hervorragend besetzt, so, wenn Frank Höhnerbach als alter Kupka eine neue Frau sucht.

Das Publikum reagierte begeistert. "Das berührt einen noch immer", sagte ein älterer Zuschauer nach der Pause. "Kein Wunder", entgegnet sein Nachbar, "das war unser Leben."

Valeria Heintges, Sächsische Zeitung, 12.01.2004

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Der Sieg der Schmulka
Viel Beifall zur Premiere von Heiner Müllers Stück "Die Umsiedlerin" in Chemnitz

Vollmond. Die Schmulka (Judith Raab) schnurrt und seufzt vor Verlangen. Der stramme FDJler Siegfried (Jan Ole Sroka) schleppt derweil einen Riesenstapel Bücher heran. Die neue Zeit, die nun anbrechen soll, braucht Bildung. Aber die Schmulka, die braucht was ganz anderes. Liebe nämlich - und gewinnt. Siegfried schmeißt die Bücher weg und rennt der jungen Frau mit der Rubensfigur hinterher. Da hat der Kommunismus den Kürzeren gezogen vor der Natur. Vorerst. Denn die Geschichte geht ja weiter. Und brachte dann aber auch nur das Ergebnis, dass es mit diesem neuen Leben der neuen Menschen nicht geht. Das wissen die Zuschauer im Chemnitzer Schauspielhaus, die Figuren in Heiner Müllers Komödie "Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande", die am Sonnabend ihre mit viel Beifall bedachte Premiere hatte, jedoch noch nicht. Und so kämpfen die einen verbissen weiter darum, ihre Vision von einem gerechten Land umzusetzen, andere arrangieren sich, wieder andere fügen sich resigniert, manche geben auf und flüchten, in den Tod oder in eine Gegend, wo das Neue nach dem Krieg wie das Alte vor dem Krieg ist.
Alles Müller, oder was? Das könnte man in diesen Tagen fragen, da zum 75. Geburtstag des 1995 verstorbenen Heiner Müller die Medien voll sind von Würdigungen - eines Autors, der zu den bedeutendsten der Gegenwartsdramatik zählt. Und nicht zuletzt wird das 3. Sächsische Theatertreffen vom 22. bis zum 25. April im Chemnitzer Schauspielhaus ganz im Zeichen des Wortgiganten stehen. Nachdem in Karl-Marx-Stadt 1981 "Der Auftrag" (Regie: Axel Richter), 1986 "Der Bau' (Regie: Frank Castorf) und in Chemnitz 2001 "Quartett" (Regie: Manuel Soubeyrand) gezeigt wurden, hat Schauspielchef Manuel Soubeyrand nun keines der apokalyptischen Dramen ausgewählt, sondern eine Komödien des Meisters, die zur Uraufführung 1961 durch die Studentenbühne der Hochschule für Ökonomie in Ost-Berlin bei den politisch Verantwortlichen ganz und gar nicht zum Lachen führte. Das Stück wurde verboten, Müller aus dem Schriftstellerverband gefeuert. Später glättete er den Text, der dann 1976 in der Berliner Volksbühne unter dem Titel "Die Bauern" eine erneute Uraufführung erlebte.
Doch so spannend die Aufführungsgeschichte sein mag, brisant ist dieser Bilderbogen aus einem Dorf im Osten Deutschlands, der sich von 1945 bis 1960 spannt, heute kaum mehr. Geschichtsstunde im Theater. Dass da bei der Bodenreform, bei der Kollektivierung und der Erziehung der Leute zu einem neuen Typ Mensch nicht alles glatt ging, dass sich da Konflikte en masse auftürmten, persönliche Tragödien eingeschlossen, das weiß man aus der Schule, aus Büchern und Filmen, die älteren Theaterbesucher noch aus eigenem Erleben.
Was den Abend dann trotzdem sehenswert macht, das sind die von einem gut aufgelegten Ensemble dargestellten Figuren, die mit bestem Grund große Geschichte neu schreiben wollen, wie der idealistische Flint (Nils Brück), dessen agitatorischer Gestus mit den Jahren freilich leiser wird. Und jenen, die ihre kleinen privaten Lebenspläne in die jeweilige Situation hineinzubasteln versuchen. Die das Neue wagen, weil sie nie was hatten und ihnen gar nichts anderes übrig bleibt; wie der zunächst kindlichscheuen, schwangeren Umsiedlerin Niet (Sabine Fürst), die einen Bauernhof übernimmt. Dass sie beide nach heutiger Sicht falsch liegen, macht sie zu tragischen Figuren, die Soubeyrand jedoch nicht der Lächerlichkeit preis gibt. Die Großbauern Rammler (Michael Pempelforth) und Treiber (Jürgen Lingmann) sowie der opportunistische Bürgermeister Beutler (Tobias D. Weber) entkommen dagegen nicht ganz der Karikatur. Extrabeifall gab es für Tilo Krügel, der als Schluckspecht Fondrak nicht nur eine körperlich schwankende, sondern sich durch jegliche Entscheidungen und Verantwortlichkeiten hindurchschlängelnde Gestalt verkörpert. Jacqueline Hamann hat die kargen Zeiten in ein treffliches Bühnenbild übersetzt, das mit wenigen Attributen auskommt und den Schauspielern die Bühne überlässt.
Dieser Blick zurück erzählt vom Scheitern derer, die verändern wollten, auch wenn das Stück mit dem geplanten Abschluss der Kollektivierung endet. Bleibt allenfalls die Frage: Passen die Umstände auf die Menschen oder sich die Menschen an die Umstände an? Oder schaffen jene es gar, die Umstände so zu gestalten, dass sie passen? Nur was ist, wenn keiner weiß, wie das aussehen soll?

Uta Trinks, Freie Presse, 12.01.2004

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Mitten im Versuchsfeld
Das Chemnitzer Schauspiel zieht aufs Land

Der Acker ist schnell aufgeteilt, kurze Zeit später schon kollektiviert - dazwischen so manche Versammlung im Dorfgasthof abgehalten und die Freude über zwei Traktoren groß. Auf dem Lande geht's also voran. Auch wenn kein einziger mit sozialistischer Heldenpose schuftet und sie alle nicht ins Bilderbuch passen. Da nimmt sich der verheiratete Parteisekretär Flint eben einfach eine jüngere, weil er Lust auf die hat. Da kungelt der Bürgermeister Beutler mit den Großbauern, weil er sich als Mächtiger gefällt. Da säuft sich Fondrak den ganzen Tag die Hucke voll und macht nichts weiter als der Umsiedlerin ein Kind. Und die lässt sich dann ein Feld zuteilen, damit sie den Lebensunterhalt für sich und den Nachwuchs sichern kann.
Bei Heiner Müller gibt es keine Vorbilder. Träume zerschellen, politische Ideale scheitern, Glück fordert Opfer. Eine ehrliche Geschichte voller Figuren mit Charakter, wunderbar aphoristisch und reich an Metaphern. Daraus macht Schauspieldirektor Manuel Soubeyrand seinen Beitrag zum 75. Geburtstag des außergewöhnlichen deutschen Dramatikers aus dem sächsischen Eppendorf. Eine solide Inszenierung, kein großer Wurf aber manch wunderbare Szene. Vor allem aber gefällt der pointierte Umgang mit dem Text.
Fast scheint es, als verberge sich hinter jeder Behauptung unwillkürlich ein "Aber", als gibt es zu jedem einzelnen eine inoffizielle Biografie. Wenn beispielsweise Tilo Krügel als Fondrak ums Bier bangt, dann ist sein Stehvermögen außerordentlich, sein Scharfsinn allerdings ebenso. So verquickt er den faulen Schuft mit dem geistreichen Unterhalter - und das ist jede Sekunde spannend. Auch Nils Brück verschafft dem Flint so viel Ambivalenz, dass es schon entsetzt, gut tut, neugierig macht. Und für einen Moment wird die Geschichte aus dem einstigen Land ganz aktuell, berührt sie den Horizont des heutigen Stadtmenschen.

Jenny Zichner, Stadtstreicher, Februar 2004

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Im Schatten des Schädels
Wo Heiner Müllers Siegeszug begann: "Die Umsiedlerin" im Schauspiel Chemnitz

Es mag überraschen, dass Karl Marx einen Hauptgrund der "langsamen politischen Entwicklung der Deutschen" in den "befügten Schriftstellern" und der "elenden Literatur vor Lessing" sieht Und man kann nur spekulieren, was der Philosoph von Heiner Müller gehalten hätte, der diese langsame politische Entwicklung rücksichtslos in die Krise gebracht hat. Jedenfalls thront Marxens gewaltiger Schädel, auf gut sächsisch "Nischel" genannt, noch immer auf einem Denkmalsockel mitten in Chemnitz, weiland Karl-Marx-Stadt DDR-Bürger nutzten den so unübersehbar zur materiellen Gewalt gewordenen Gelehrten-Kopf, um in Marxens Schriften auch widerständlerisches Denken zu entdecken, sehr vorsichtig freilich: Gegen Marx, so die Hoffnung, war auch von den ideologischen Besserwissern nur schwer Front zu machen.
Vielleicht liegt darin einer der Gründe, dass das Schauspiel in Chemnitz schon immer ein guter Ort für Heiner Müller war. 1986 brachte hier Frank Castorf in einer vierstündigen Aufführung das Aufbau-Epos "Der Bau" auf die Bühne, sprengte die strenge Struktur des Stücks, baute die Erfahrungen der Gegenwart ein, gab den Schauspielern Gelegenheit, sich mit Müllers Material, auch durch Zufügung anderer Texte, frei und souverän auseinander zu setzen. Der legendäre Intendant Gerhard Meyer öffnete Castorf mit dieser Arbeit den Weg nach Berlin. 1981 schon, kurz nach der von Müller selbst betreuten Uraufführung an der Berliner Volksbühne, war Axel Richter eine gedankenklare und doch sinnlich expressive Aufführung des "Auftrags" gelungen. Wenn Heiner Müller sich auf den Bühnen der DDR endlich durchzusetzen begann, liegt ein wichtiger Grund dafür im Chemnitzer Theater.
Von den Ansprüchen solcher Tradition hält sich Manuel Soubeyrand bei seiner Inszenierung des zwischen 1956 und 1961 entstandenen Müller-Stücks "Die Umsiedlern oder Das Leben auf dem Lande" allerdings frei. Er holt aus den in Versen geschriebenen Szenen den Spaß an Geschichte, begegnet ihnen mit einer Naivität, die es faustdick hinter den Ohren hat. Der große Versuch mit der sozialistischen Landwirtschaft ist gescheitert Der Regisseur setzt dieses Wissen voraus und verteidigt zugleich die sozialistische Utopie, heiter, überlegen.
Müller wird nicht verbessert, umgedeutet, zurechtgeschnitten auf die Wirklichkeit des Jahres 2004. Der Text bleibt stehen. Soubeyrand zeigt die Lust an Veränderung. Ein Dorf; irgendwo in der DDR. durchlebt die Umbruchzeit nach der Bodenreform 1946 bis hin zur Kollektivierung 1960. Das gerät auf der Bühne nicht zu "Bildern" des Klassenkampfes, sondern zu einem fröhlichen Diskurs. Der Regisseur entfacht diesen Streit besonders in den großen Versammlungsszenen mit einer Leidenschaft, der alle schneidende Schärfe fehlt. Es ist, als ob die Reaktionäre und die Fortschrittlichen im Stück wüssten, wie alles ausgegangen ist Sie reiben sich mit Witz und Hinterlist aneinander, sie spüren Schwächen auf, holen Stärken heraus -sie machen gemeinsam das große Spiel von einer Weltveränderung, die sie bestaunen und der sie nicht gewachsen waren.
Auf der Bühne steht ein Ensemble von staunenswerter Geschlossenheit. So viele stimmige Beobachtungen charakterlicher Absonderlichkeiten den Figuren eingeprägt sind, bemühte Detailpusselei gibt es nicht. Soubeyrand lässt flott spielen, baut pralle Massenszenen im Wirtshaus und gibt den intimen Vorgängen in der "Landschaft" mit dem Koppelzaun und der leichten Anhöhe im Hintergrund eine fast durchsichtige Klarheit (Bühne Jacqueline Hamann). Der freie Umgang aller Handelnden miteinander bleibt bestimmend, jeder von ihnen hat seinen Sparren, seine Bosheit, seine Liebenswürdigkeit. Was da geschieht, stimmt bis in die klug charakterisierenden, aber nicht vordergründig naturalistischen Kostüme von Jenny Schall hinein. Die "Erinnerung an eine Revolution" muss eben nicht so aufgeblasen sein wie bei Ulrich Mühes "Auftrag" in Berlin. Die Chemnitzer, vielleicht weil sie doch noch näher dran sind, stellen sich dem Vergangenen selbstbewusst, souverän und mit einer verzeihenden Ironie.

Christoph Funke, Der Tagesspiegel, 13.01. 2003


 

 

  Erstellt am 19.02.2007