KRITIK:
Das Leben als Selbstexperiment
"starting point" - ein spannendes Projekt am
Chemnitzer Schauspielhaus zu Carlfriedrich Claus
Chemnitz. Ein schlichter
Raum, vier (Video-) Wände- sie bilden die (Proben-)Bühne für
den Lebenskampf: Karate, ein sauberer Sport, der schnelle Entscheidungen
fordert und äußerlich nicht verletzt. Bilder in Zeitlupe.
Dazwischen die Schauspieler Maike Jebens, Carola Sigg, Michael Pempelforth.
Und das Publikum. Es ist Teil des Experiments. Premiere hätte es
vorgestern Abend bei den "Begegnungen", dem Chemnitzer Kulturfestival.
Das Werk von Carlfriedrich Claus gilt gemeinhin als schwer zugänglich.
Nichtsdestotrotz hat Claus die Erklärung für seine Art der
Kunstproduktion in vielen, inzwischen auch zugänglichen Briefen,
Tagebuchaufzeichnungen und Gesprächen selbst geliefert. Aus diesem
Fundus schöpft Regisseur Torsten Krug. Und es gelingt ihm, mit
seinem Projekt am Chemnitzer Schauspielhaus den zunächst verschlossen
scheinenden "Experimentalraum" des Carlfriedrich Claus Stück
für Stück zu öffnen.
Dreigeteilt stellt er die Persönlichkeit des Künstlers dar,
angelehnt vielleicht an Ich, Es und Über-Ich, angelehnt vielleicht
auch an die männlichen und weiblichen Elemente in jedem Menschen
und insofern auch gewagt, aber nicht unplausibel. Wie das gesamte Stück,
das den vielfältigen Claus-Interpretationen nicht noch ein kryptisches
Pamphlet hinzufügt, sondern klären, erklären will: Dass
die Sprachblätter des Annabergers nicht ästhetischen Regeln
genügen wollen, sondern dass sich der Betrachter mit ihrem Inhalt
auseinandersetzen, Position (womöglich auch Gegenposition) beziehen
soll.
Und dass Claus für seine Kunst nichts weniger als sein ganzes Leben
eingesetzt hat - was ihn zum großen Künstler macht und was
ihn unterscheidet von vielen Epigonen, Mit-Experimentatoren und Sprachspielern.
Und was seinen Preis hat: Keiner kommt hier lebend raus, hat Jim Morrison
das genannt. Aber Claus hat diesen Preis gern bezahlt, er hat sich wohl
als Diener, nicht als König der Welt gesehen.
Drei Seelen wohnen, ach, in seiner Brust, dargestellt von drei Spielern,
die sich selten im Dialog treffen, dennoch nie aneinander vorbei- und
nie aufeinander einreden, sich gleichwohl nicht begegnen wollen im Kuss
oder in einer anderen Berührung - was dem sehr textilastigen (aber
nicht überlasteten) Stück berührende Züge verleiht.
Es ist ein Spiel über disziplinierte Selbsterfahrung, über
die Freude am Selbstexperiment - ein Spiel gegen das "wesenlose
Vergehen .der Zeit", ein Spiel, das sich seiner Außergewöhnlichkeit
bewusst ist und sich deshalb immer wieder zu Erklärungen genötigt
sieht, die Carlfriedrich Claus als einen lebensbejahenden, "vorwärts
träumenden", keineswegs introvertierten und isolierten Menschen
zeigen, der nichts von "schamanistischen Ferienkursen" hielt,
sich aber ernsthaft mit archaischen Techniken der Selbsterkundung beschäftigte.
Ein Spiel, das kein Spiel ist Es ist, als ob der Künstler selbst
jener "neue Mensch" werden wollte, den die Utopie des Kommunismus
verspricht. Leider bleiben Claus' gesellschaftsphilosophische Ansichten,
bleibt sein urkommunistisches Weltbild, ohne das sein Werk kaum verständlich
ist, weitgehend ausgespart - vielleicht eine Konzession an den Zeitgeist,
dem man erst erklären müsste, dass Kommunismus nicht jener
deformierte "real existierende Sozialismus" ist.
Dies aber bleibt der einzige Mangel eines spannenden, liebe- und kunstvoll
inszenierten Spiel- und Klangprojekts (Dramaturgie: Eva Wemme) auf einer
von Alexej Paryla, der auch die Videos filmte, angemessen karg ausgestatteten
Bühne, die den in schlichte Kimonos gekleideten Schauspielern dennochgenügend
Raum gibt. - Am Ende heben sich die Wände, die Zuschauer werden
ins Leben entlassen. Ein Anfang - das Stück heißt "starting
point".
Matthias
Zwarg, Freie Presse, 11.10.2005
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