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Anton Tschechow
  "Drei Schwestern"
 
Premiere am 24. Januar 2009
   
    Regie: Enrico Lübbe
    Bühne: Hugo Gretler
    Kostüme: Michaela Barth


 

"Nach Moskau! Nach Moskau!" Das ist die große Sehnsucht der drei Schwestern Olga, Mascha und Irina. Seit elf Jahren leben sie, als Mittelpunkt der Gesellschaft, in einer kleinen Gouvernementshauptstadt im Irgendwo. Umschwärmt von den örtlichen Offizieren, befeuert von den eigenen Träumen. Die Zukunft ist zum Greifen nah - und wird doch nie erreicht ....

1903 schrieb Anton Tschechow dieses legendäre Drama, und seitdem stehen seine drei Schwestern auf den Bühnen der Welt und träumen von der Zukunft.

Text - Theater Chemnitz !!!

 
 
 
Die Premiere spielten:
Andrej Sergejewitsch Prosorow
-
Wenzel Banneyer
Natalija Iwanowna, seine Braut, dann seine Ehefrau
-
Ulrike Euen
Olga, seine Schwester
-
Bettina Schmidt
Mascha, seine Schwester
-
Julia Berke

Irina, seine Schwester

-

Daniela Keckeis

Fjodor Iljitsch Kulygin, Lehrer am Gymnasium, Ehemann Maschas

-

Michael Pempelforth

Alexandr Ignatjewitsch Werschinin, Oberstleutnant

-

Dirk Lange

Nikolaj Lwowitsch Tusenbach, Baron, Leutnant

-

Bernhard Conrad

Wasilij Wasiljewitsch Soljonyj, Stabshauptmann

-

Yves Hinrichs

Iwan Romanowitsch Tschebutykin, Militärarzt

-

Bernd-Michael Baier

Aleksej Petrowitsch Fedotik, Unterleutnant
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Karl Sebastian Liebich
Wladimir Karlowitsch Rode, Unterleutnant
-
Nikolaus Barton
Ferapont, Diener bei der Zemstvoverwaltung, ein alter Mann
-
Klaus Schleiff
Anfisa, die Njanja
-
Muriel Wenger

 

 

     
     
 

KRITIK:

Drei Schwestern - Enrico Lübbe leuchtet in Chemnitz Tschechows ewiges Sehnsuchtsdrama aus

Endstation Sehnsucht auf russisch

Chemnitz, 24. Januar 2009. Die Inszenierung beginnt mit einer "Pause". Soeben hat Ferapont, der schwerhörige alte Diener, eine Schubkarre von links herein geschoben und die Ladung wie einen Haufen Gartenerde auf die Rampe gekippt, allerlei hübsch verschnürte Geschenke, darunter auch der berühmte Samowar. Nun sitzt er rastend vor dem Publikum, packt Stulle und Thermoskanne aus und fängt an, vom Stück zu erzählen. "Drei Schwestern" kennt er nämlich, das hat er schon mal gesehen: "In Moskau. Das war toll! Toll!"
Aber so toll, erfährt man dann wenige Sätze weiter, war die Moskauer Tschechow-Aufführung dann auch wieder nicht, sondern eher dunkel und sterbenslangweilig, so dass Ferapont das meiste verschlief, während nachher, im Hotel, ein Bräutigam über das Treppengeländer in den Tod stürzte. Großes Drama. Die Kunst, vom Leben überholt.

Durch das trübe Glas der Erinnerung
Dann packt der Alte seinen Kram, steht ächzend auf und pinselt vor dem Abgang noch etwas in kyrillischer Schrift auf den eisernen Vorhang, das den Figuren in den nächsten zwei Stunden ganz sicher nicht gelingt: "Ich gehe." Mit dieser Brechung durch das trübe Glas der Erinnerung beginnt Enrico Lübbe, der Chemnitzer Schauspielchef, seine Tschechow-Ausleuchtung.
Einmal mehr verhandelt er die Dramen zwischen Traum und Wirklichkeit. Das tat er zuletzt auch mit Endstation Sehnsucht, seiner Chemnitzer Einstands-Inszenierung. Allerdings klebte die manisch am Text und war darüber klein und museal geraten. Mit Tschechows ewigem Schwermutsdrama, im Programmheft als "Endstation Sehnsucht, russisch" apostrophiert, geht es besser.
Das Wohnzimmer im Haus der Geschwister Prosorow darf man sich durchaus luxuriös vorstellen, nur hat Hugo Gretler (Bühne) den historischen Kontext gekappt. Das Ambiente mit seiner Spiegelwand und seiner beigen Eleganz erinnert eher an einen Großverdiener-Haushalt der 1960er Jahre als an die russische Bourgeoisie um 1900.

Das bekannte Bild des Stillstands
Die Teppichelemente allerdings, die sich an den Kanten wie Schelf-Eis übereinander schieben, erzählen die alte Geschichte vom Niedergang. In diesem Raum wird vier Akte lang herum gesessen. Viele Beine werden übergeschlagen und viele Sätze gesprochen gegen Langeweile und Lethargie. Die Regie legt nichts wesentlich Neues in das Stück, sie kostet es lediglich aus, arrangiert und konturiert das bekannte Bild des gesellschaftlichen Stillstands am Ende einer Epoche.
Die Einfälle sind simpel, aber nicht ohne Effekt. Wenn sie etwa im Leid am Nichtstun über die Großartigkeit der Arbeit schwadronieren, schiebt bestimmt die von lebenslanger Arbeit gekrümmte Greisin Anfisa den Staubsauger durch die Sitzgruppe. Oder Andrej, der beruflich schwer geerdete Bruder von Olga, Mascha und Irina, fischt schon wieder eine Hand voll Chips aus der Chipstüte, die er bei sich führt wie ein Mechaniker seinen Lumpen. Und wenn in diesem mit Resignation gefüllten Villen-Wartesaal sich doch einmal das Schweigen dehnt, hat bestimmt noch jemand eine Kaffeetasse, mit der sich erlösend klappern lässt.
Mit anderen Worten: Enrico Lübbe bleibt seinem schnörkellosen und für seine 33 Jahre überraschend konventionellen Regiestil treu. An keiner Stelle fährt er dem Autor in die Parade, lieber schaut er ihm fasziniert über die Schulter. Wo Sebastian Hartmann im nahen Leipzig seine postdramatische Show abzieht, begnügt er sich mit präziser Schauspielerführung und einzelnen, garantiert nicht von Originalitätssucht gemalten Bildern.

Fallende Masken der Vereinsamten
Eines zeigt Luftballons, die ungefähr auf Hüfthöhe im Raum hängen bleiben wie die Figuren mit ihrem Lebenshunger und ihrem Liebesdurst, irgendwo zwischen dem desillusionierenden Boden der Garnisonsstadt und dem verlorenen Sehnsuchtsort Moskau. Alles schon mal dagewesen - wohl wahr.
Letztlich sehen wir Vereinsamende, deren Masken gut zwei Stunden lang fallen. Der Andrej von Wenzel Banneyer, eine der stärksten Figuren des Abends, vereinsamt in rasender Unruhe. Seine Frau Natalija, von Ulrike Euen als Gattinnen-Tussi angelegt, vereinsamt in kleinbürgerlichen Großbürger-Allüren. Bettina Schmidts Olga vereinsamt in Zurückhaltung, Julia Berkes Mascha in emotionaler Kälte und Hitze, Daniela Keckeis' Irina in herber Distanz.
Den Ausbruch aus der Provinz wollen sie alle, doch keiner wagt den Aufbruch "nach Moskau, nach Moskau, nach Moskau". Insofern nichts Neues in Chemnitz
.

von Ralph Gambihler http://www.nachtkritik.de

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Drei Schwestern in Chemnitz: beißend absurd und sehr komisch

Sehr geehrter Herr Gambihler,
aufgrund einer positiven Besprechung in der Leipziger Volkszeitung waren wir gestern abend in den Chemnitzer "Drei Schwestern". Und es hat uns überwältigt. Nicht nur dass wir von der atem- und pausenlosen Fassung der zweistündigen Aufführung begeistert waren. "Drei Schwestern" in eine solche Bösartigkeit zu führen, häufig beißend absurd und sehr komisch. Ohne jedes Mitgefühl für die Figuren, sie aber dennoch nicht vorzuführen oder zu karikieren. Was für tolle Bilder (der Feuerakt, die schmerzenden Schnitte im Abschiedsakt) und was für hervorragende Schauspieler! Von alledem finden wir in Ihrer "Kritik" nichts. "Nichts neues in Chemnitz" schreiben Sie und führen als Vergleich Herrn Hartmann in Leipzig an. Warum? Ist Hartmann "neu" für Sie? Wie alt sind Sie? Woher kommen Sie? Mein Mann und ich haben schon die unterschiedlichsten Theorien aufgestellt, dass Sie aus Berlin kommen und sowieso alles was außerhalb der "Hauptstadt" zu sehen ist, zu provinziell finden. Oder Sie sind aus Leipzig (vielleicht sogar Mitarbeiter von Herrn Hartmann) und müssen das dortige "Theater" verteidigen und den, wie in der LVZ-Kritik beschriebenen, momentan auffällig steigenden Theatertourismus von Leipzig nach Chemnitz stoppen. Oder sind Sie aus dem Chemnitzer Vorgängerteam von Herrn Lübbe und aufgrund persönlicher Verstrickungen (Entlassung?) aufgebracht? Bitte erklären Sie es uns! Aber bitte nicht mit dem üblichen Blabla von wegen "Kritik ist nur subjektiv" oder "das ist ja nur meine Meinung" oder "Theater ist auch eine Geschmacksfrage". Das wissen wir schon.

von Diana und Jens W., Markkleeberg, 31.01.2009, http://www.nachtkritik.de

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Drei Schwestern in Chemnitz: Nachtkritikerwirklichkeit

Sehr geehrte Theatergänger aus Markkleeberg,
ich gestehe: Sie überraschen mich! Bislang hätte ich nicht gedacht, dass meine Leser so ausgiebig über meinen biografischen Hintergrund/beruflichen Werdegang etc. spekulieren könnten. Nun weiß ich es besser, es gibt also "Theorien". Die dazu gehörige Wirklichkeit sieht relativ schlicht aus. In Kurzform ist sie auf nachtkritk.de in der AutorInnenliste nachzulesen, die Sie unter "Impressum" leicht finden werden. Dort können Sie erfahren, dass ich nicht aus der Hauptstadt stamme, kein Hartmann-Mitarbeiter bin, kein Chemnitz-Entlassener etc. Darüber hinaus kann ich Ihnen versichern, dass ich auch sonst keinen Grund habe, missgünstig, rachsüchtig oder sonstwie emotional depraviert nach Chemnitz zu blicken, sondern einfach nur die "Drei Schwestern" von Enrico Lübbe nicht ganz so großartig fand wie Sie, übrigens aber auch, wie meinem Text durchaus zu entnehmen, keineswegs schlecht. Die von Ihnen angesprochene Rezension in der Leipziger Volkszeitung schrieb, noch einmal übrigens, eine langjährige und geschätzte Kollegin von mir. Ich hatte Gelegenheit, vor der Niederschrift meiner Besprechung mit ihr über die Inszenierung zu sprechen, denn wir waren in Fahrgemeinschaft von Leipzig nach Chemnitz gekommen und fuhren auch wieder gemeinsam zurück. Wir waren uns nicht ganz einig, weit auseinander lagen wir aber auch nicht. Ach ja, das Hartmann-Theater! Warum habe ich mich darauf bezogen? Weil es eine programmatische Gegenposition einimmt. Eine Wertung nach dem Schema "Hartman super, Lübbe mies" ist damit nicht verbunden, nicht einmal ansatzweise.

von Ralph Gambihler, 02.02.2009, http://www.nachtkritik.de

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Erstarrt in ewigen Debatten

"Drei Schwestern" scheitern mit ihrer Sehnsucht nach dem Leben - Viel Beifall für Tschechow-Klassiker in Chemnitz

Chemnitz. Krachend zerbirst das Köfferchen, als sich am Ende der eiserne Vorhang senkt. Gerade noch hatte sich Irina daran krampfhaft festgehalten. Es war schon nur noch winzig, dieses letzte Utensil des Aufbruchs. Den es nicht geben wird. Jetzt ist auch die letzte Hoffnung kaputt. Nun wird nichts mehr kommen. Wie bei Olga, Mascha und Irina langsam die Gewissheit darüber wächst, dass sie die Provinz nie verlassen werden - das inszeniert Enrico Lübbe im Chemnitzer Schauspielhaus ohne Unterbrechung. Anton Tschechows Klassiker "Drei Schwestern" hatte am Samstag Premiere und erntete viel Beifall.
Die Pause gibt es witzigerweise gleich am Anfang des Abends. Klaus Schleiff macht diese als Diener der Zemstvoverwaltung. Dann schreibt er in großen kyrillischen Lettern "Ich gehe" an die Wand. Und (fast) bis zum Schluss prangt diese Absichtserklärung über der Szenerie. Aber genau das tun sie eben nicht, die Figuren aus dem Seelendrama des großen Russen. Sie schaffen es einfach nicht, sich aus ihrer Pause, ihrem Warten auf Veränderung zu lösen. Hugo Gretler hat den Salon der Familie Prosorow in blasser Eintönigkeit gehalten. Die Langeweile lauert hier in allen Ritzen, auch wenn zunächst in den müden Geselligkeiten der Schwestern und ihrer Gäste noch so etwas wie leise Heiterkeit mitschwingt, weil man das ja bald hinter sich lassen wird, wie man versichert. Man schwadroniert beständig über den Segen der Arbeit, während einzig Dienerin Anfisa (Muriel Wenger) unaufhörlich im Hintergrund werkelt. Der eigene Impuls zum Handein wird erstickt von ewigen Debatten ins Leere.
Fast unmerklich schleicht sich die große Resignation ein. Man wird dieses öde Dasein aushalten. Irgendwie. Nicht gewollt, aber pragmatisch wird Olga, die bei Bettina Schmidt etwas blass bleibt, Direktorin des Gymnasiums. Die unglücklich verheiratete Mascha (Julia Berke) gesteht ihre Liebe zu Oberstleutnant Werschiin (Dirk Lange), an den sie sich ebenso verzweifelt wie vergeblich klammert, als das Militär die Stadt verlässt. Luftballons, die sie wie kleine Hoffnungszeichen im Raum verteilt hatte, werden von Bruder Andrej (Wenzel Banneyer) aus dem Weg geräumt. Denn der ist, früher schon als seine Schwestern, im drögen Alltag angekommen - was er mit Unmengen von Kartoffel-Chips und selbstbetrügerischen Beteuerungen über sein zufriedenes Dasein betäubt. Diese Reden spart sich Irina (Daniela Keckeis), die keinen ihrer beiden Verehrer mag, am Ende jedoch einen heiratet und einer trüben Zukunft entgegengeht.
Der Arzt Tschechow hat als Autor keine Therapie für seine Figuren. Aber er ist ein glänzender Diagnostiker. Lübbe nimmt das auf, drängt sich als Regisseur nicht vor und inszeniert mit steigender Spannung eine emüchternde Analyse der Stagnation, des selbst verschuldeten Scheiterns.

Uta Trinks, Freie Presse, 26.01.2009

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Viel Beifall für Anton Tschechows Drama am Chemnitzer Schauspiel

"Drei Schwestern": Kaputt, putt, putt

CHEMNITZ - "Ich wünschte, mich gäbe es nicht!", greint ein oller, seniler Militärarzt - und ist dicht dran an des Rätsels Lösung, warum Anton Tschechows Drama "Drei Schwestern" (1901) immer und immer mal wieder auf den Spielplan kommt.

Russischer Landsitz, reiche Nichtstuer-Familie, die Schwestern Olga, Mascha, Irina hätten gern einen oder einen neuen Mann, dazu schneidig-dumme Offiziere, große Langeweile, diverse Ausbruchsversuche - man wünscht sich danach wirklich, dass es diese stinkendfaulen, linkspfötigen Klugscheißer nicht gäbe.
Es gibt sie aber heute noch, meinte offensichtlich Schauspielchef Enrico Lübbe am Premierensonnabend im Chemnitzer Schauspiel mit seiner semispannenden, erfrischenden, jedenfalls lange und freudig beklatschten Inszenierung. Er hat gut daran getan, diese lähmende Tagedieberei in der russischen Provinz auf zwei Stunden (ohne Pause und Birken) herunterzupeppen. Man pennt und lungert in so was wie der Koje einer schwedischen Möbelhauskette (klare Bühne Hugo Gretler) herum, jeder redet mal was, keiner hört zu. Klingt nicht gerade reißerisch, ist aber hübsch irdisch und oft zum Kichern heiter: "Mich dürstet nach Kampf und Arbeit!", blökt wichtigtuerisch der Nichtstuer, "Mein Bobik hat Mami gesagt!", plärrt Mutti, "Putt, putt, putt!", gackert sarkastisch eine uniformierte Nulpe, "Ehefrau ist Ehefrau, aber kein Mensch!", jammert ein einsam und heftig an sich herumrubbelnder Ehemann. Alles kaputte Versagertypen.
Lübbe macht das ganz locker und als ein echtes Schauspielerstück für ein großes und gut aufgelegtes Ensemble, vornweg Wenzel Banneyer als dummverheirateter Bruder Andrej, Bernhard Conrad als zumindest verbal heirats- und arbeitswilliger Baron, Ulrike Euen mit glaubwürdigem Wechsel vom Trampel zum eingeheirateten Miststück, dazu die Schwestern Bettina Schmidt (bewegend grüblerisch), Julia Berke (beherrscht unbeherrscht), Daniela Keckeis (schön scheinheilig), Bernd-Michael Baier sowie Muriel Wenger als alte Dienstmagd.
Lübbe lässt anfangs eine alte Quasselstrippe (Klaus Schleiff) mit Schubkarre, Bemme, Pinsel und Pausenschild die ganze Sache anekdotisch eröffnen, "Deutsche Ärsche wollen es hübsch gemütlich haben" sinnieren und "Gehe" in kyrillischen Buchstaben an die Wand pinseln. Zum Schluss werden dann merkwürdigerweise nur noch schlaglichtartige Szenen dieser trostlosen Beziehungen gezeigt. Vorn Geschwätz, hinten steht "Ausgang", aber kein Ausweg in Sicht. Schließlich quetscht der fallende Vorhang einen Koffer. "Ups, das war wohl nicht so gewollt", flüstert's im Parkett. Wohl doch: Alles bleibt, wie es war, keiner geht, nur das Leben geht vorbei. Wie sagte Mascha: "Das Leben ist schön, unseres wird danebengehen."

Ch. Hamann-Pönisch, Chemnitzer Morgenpost, 26.01.2009

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Der Traum von Moskau - Anton Tschechows "Drei Schwestern" in der Regie von Enrico Lübbe

Nur die Sehnsucht bleibt

Er ist ein Großmeister unter den Autoren: Anton Tschechow. Und seine "Drei Schwestern" gehören zu den Stücken, die die Augen von Regisseuren wie Schauspielern leuchten lassen. In Chemnitz hat sie jetzt der neue Schauspielchef Enrico Lübbe inszeniert.
Der Bahnhof ist 20 Werst entfernt, die Provinzstadt so öde wie nett. Der passende Ort zum Reden: über den Wert der Arbeit, die erst den Menschen komplett macht, über Vernunft und Sünde, Krieg und Moral. Über die ewige Sehnsucht, gut zu sein, tüchtig und nützlich, zu lieben und geliebt zu werden In den lichten Birkenwäldern Russlands, in diesem Fall auf albernes Bonsaiformat reduziert, ist schön traurig sein beim Meditieren über "früher" oder "bald". Das Jetzt mit allen bitteren Enttäuschungen und gähnenden Abgründen kommt in lähmendem Schweigen zum Zug, höchstens einem flüchtigen leidenschaftlichen Moment. Lübbe inszeniert gemessen; dass ein Protagonist kurz keuchend onaniert, löst im Saal schon erschrecktes Hüsteln aus. Ein Hartmann-geübter Theatergänger in Leipzig wäre längst auf anderes gefasst.
Doch hier, ein paar Hügel südlicher, wird nicht gebrüllt und geblutet und entblößt. Hier wird das mit der Werktreue noch wörtlich genommen, ein Stück nicht bloß als Material. Aber anders als bei seiner Einstiegs-Premiere mit Tennessee Williams "Endstation Sehnsucht", als das Prinzip gediegen staubige Langeweile erzeugte, gerät dieser Lübbe-Abend keineswegs zu einem, an dem man dauernd zur Uhr schaut. Zwar bringt er kaum Überraschungen, doch immerhin solides Handwerk, mit hübschen Einfällen. Und eben einmal mehr die Erkenntnis, dass Sinnsuche ein ewiges Thema ist. Egal, ob sie in 100 Jahre altem adligen Ambiente stattfindet oder in einer elegant sandfarbenen Wohnlandschaft wohlsituierter Bürger der 1960er (Bühne: Hugo Gretler), die wahlweise mit Luftballons poetisch aufgepeppt wird oder durch erstarrte Gruppenbildung zum Symbol für bleierne Verhältnisse.
Die hinreißenden Schwestern Irina, Mascha und Olga, die es halbwüchsig mit dem Generalsvater in die Gouvernementsmetropole verschlug, sind hoch gebildet und tief verzweifelt. Der Vater ist tot, das Haus vereinsamt, die immerselben Offiziere führen dort die immerselben Gespräche. Die Tage vergehen, das Leben verrinnt, während Mascha ihren Ehemann mit dem neuen Brigadekommandeur betrügt, dem flotten Werschinin aus Moskau. Während Andrej, der eigentlich zum Professor bestimmte Bruder der drei Heldinnen, Hals über Kopf Natalja heiratet, die klirrend herrschsüchtig die Familie dominiert, Erben zur Welt bringt und mit Andrejs Vorgesetztem anbandelt. Während auch die rührend schwärmerischen Träume von Irina, der jüngsten, mit dem endlich Auserwählten sterben. Als, unaufhaltsam, so das Schicksal seinen Lauf nimmt, gewinnt Lübbes Regie an Tempo und Kontrast. Werden die Szenen, von schwarzer Dunkelheit getrennt, immer atemloser. Dabei hat es harmlos begonnen. Mit dem listig tauben Diener Ferapont, der in einer Schubkarre die Geschenke zu Irinas Namenstag herankarrt und bei der Gelegenheit, "Pause" verkündend, berichtet, wie er in Moskau, im berühmten Theater an der Taganka, Tschechows "Schwestern" erstmals begegnete. "Das war toll!" Fast so toll wie dann die wodkaselige Fortsetzung im Hotel, wo allerdings ein Bräutigam übers Treppengeländer abstürzte. So ist das mit der Kunst, der Realität und der Erinnerung - etwa im Theater.
Das in Chemnitz überzeugt durch Schauspiel-Qualität: Bettina Schmidt (Olga), Julia Berke (Mascha) und Daniela Keckeis (Irina) sind großartig. Ebenso Wenzel Banneyer als genervter Bruder, Ulrike Euen als dessen Gattin, Michael Pempelforth als Maschas düpierter Eheherr sowie Dirk Lange als Werschinin Überaus freundlicher Beifall belohnt ein sichtlich engagiertes Ensemble.

Gisela Hoyer, Leipziger-Volkszeitung, 27.01.2009

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Schwächlinge in starken Bildern

Das Schauspiel Chemnitz spielt "Drei Schwestern" von Tschechow in einer beeindruckenden Fassung.

Die "Drei Schwestern" von Tschechow habe er schon mal gesehen, erzählt Schauspieler Klaus Schleiff vom Theater Chemnitz ganz zu Anfang. In Moskau war das, sagt er, dort, wo sie alle hin wollen in diesem Stück. Zwei Stunden später zerquetscht der eiserne Vorhang noch einen kleinen Koffer - eine Reise wird es nie geben.

Der Regisseur lässt trudeln

Natürlich hoffen die Protagonisten des Stücks immer, debattieren über das Morgen, über gesellschaftliche Utopien, aber können einfach nicht entkommen. Olga nicht, Mascha nicht, Irina nicht, der Bruder Andrej nicht und auch keiner der Offiziere, die sich regelmäßig im Haus der gebildeten Familie treffen. Sie alle haben die Langeweile schon kultiviert, da kommt Regisseur Enrico Lübbe und lässt sie erst mal auf der Drehbühne trudeln, damit sie sich überhaupt einmal bewegen. Langsam kreisen sie um sich selbst.

Bühnenbildner Hugo Gretler hat sogar Auswege geschaffen aus der neonbeleuchteten Sachlichkeit, aber keiner rührt sich. Kurz darauf wird es trotzdem spannend, denn hinter jedem Einzelnen in dieser starren Runde steckt ein wahrhaft feiner Charakter. Bettina Schmidt zum Beispiel wirkt im Stillen. Ihre Olga wankt zwischen Pflichtbewusstsein und Dekadenz, ihre Anwesenheit hat Kraft, auch wenn sie sich kaum einmischt.

Die Ödnis wird gerafft

Dagegen ist die Mascha von Julia Berke ein zutiefst leidenschaftliches Weib, sie lebt aus und plauzt heraus. Was die Irina von Daniela Keckeis nun wiederum nicht kann. Sie ist vielmehr ein naives Kindchen von schwermütigem Wesen; fast nervtötend in ihrer Art. Aber der Baron liebt sie. Und der Baron ist die beste Partie in diesem Kreis. Nicht bei Tschechow, aber in dieser Inszenierung - dank Bernhard Conrad. Es ist einfach grandios zu sehen, wie leise er die Situation beherrscht, wie schüchtern er um die Liebe ringt und wie unsicher er den Ausbruch aus der Tatenlosigkeit versucht.

Aber auch Wenzel Banneyer als Andrej ist herrlich verzweifelt, Ulrike Euen als dessen Frau so peinlich wie schrill und aufgesetzt. Da hocken wirklich Leute zusammen, die mal abgesehen von ihrer immensen Unbeweglichkeit und emotionalen Abgestumpftheit ein sehenswertes Panoptikum schaffen. Und sie werden immer besser, je weniger sie sich zu sagen haben. Sitzen sie anfangs noch in lange Diskussionen verstrickt, werden die Szenen immer kürzer, tonloser, regungsloser. Am Ende sind es gefühlt nur noch Minuten bis zum nächsten Black, mit dem Enrico Lübbe die endlosen Jahre und Tage in dieser öden Provinz rafft.

Und plötzlich ist Schluss: Die Offiziere ziehen weiter, der Idealist ist erschossen, die halbe Stadt abgebrannt und der Koffer entzwei. Zurück bleibt die zeitlose Debatte über eine Gesellschaft, die den Wandel stets fordert aber selbst nicht vollbringen kann.

Jenny Zichner, SZ-Online, 27.01.2009

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Über Jedem das Beil

"Drei Schwestern" von Anton Tschechow in Chemnitz

In den drei größten sächsischen Städten, Leipzig, Dresden und Chemnitz, gehen die Schauspiel-Theater neue Wege - oder stehen vor dem Umbruch.
Sebastian Hartmann hat in Leipzig das Zepter übernommen und das Ensemble von Wolfgang Engel aufgelöst. Durchweg neu engagierte Künstler sind am Werk, Vergangenes darf vor dem Neuen offenbar keinen Bestand haben, und so heißt das Schauspielhaus jetzt "Centraltheater", und die "Neue Szene", das theatergeschichtlich bedeutsame kleine Experimentiertheater, darf sich "Skala" nennen. Ob Hartmann mit seiner Radikalität Erfolg haben wird, bleibt nach heftig umstrittenen Aufführungen noch ungewiss.
Während in Dresden Wilfried Schulz aus Hannover den langjährigen Intendanten Holk Freytag im August ablösen wird, hat in Chemnitz Enrico Lübbe in der Nachfolge von Katja Paryla die Arbeit als Schauspieldirektor bereits aufgenommen. Mit der Uraufführung von Ulrike Syhas Stück "Privatleben" (Regie Dieter Beyer) ist dem neu formierten Ensemble schon ein beachtlicher Erfolg gelungen. Das Wagnis mit Tschechows Drama "Drei Schwestern", das Enrico Lübbe am vergangenen Wochenende herausbrachte, war also gut vorbereitet. Keine Unruhe.
Vor einer Gitterwand, im trägen Rhythmus eines sich langsam drehenden Bühnensegments, sind Menschen versammelt, die nicht wissen, ob sie Leben haben oder nur Leben spielen. Eine fiebrige Erwartung herrscht, die immer wieder in sich zusammenfällt. Monologe plätschern dahin, dann ist Stille. Bis sich doch einer mühsam zum Reden aufrafft. Wie in einem Sandkasten rieseln die Schicksale der zufällig Versammelten dahin, gewinnen keine Festigkeit. Erinnern wir uns: In einer russischen Provinzstadt zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, "ähnlich Perm", schrieb Tschechow, leben die drei Töchter eines verstorbenen Brigadekommandeurs - ihr Haus bleibt Treffpunkt der Offiziere, gesellschaftlicher Mittelpunkt in öder Abgeschiedenheit. Nur eine Hoffnung beseelt Olga, Mascha, Irina - wieder nach Moskau heimkehren zu können. Ihre Sehnsucht aber bleibt unerfüllt, Eheschließungen enden so kläglich wie Liebesversuche, keine Bindung hält, und am Ende sind die drei jungen Frauen so hoffnungslos allein wie nie zuvor.
"Ist doch alles egal", brabbelt der vor der Pension stehende Militärarzt vor sich hin, zu faul, um der abziehenden Truppe zu folgen. Auf diesen Satz treibt die Inszenierung von Enrico Lübbe im Bühnenbild von Hugo Gretler zu. Sie zeigt einen lähmenden Zustand und ist nicht darauf aus, Schuldige an dieser Lage zu finden, oder Aufrührer zu feiern. Die auf der Bühne stehenden Figuren reden wie unter Zwang von Arbeit, die endlich getan werden muss - keiner macht den Anfang dazu. Alle wollen ein großes Gefühl für sich, und sie sind zu schwach, selbst eine kleine Hoffnung festzuhalten.
Lübbe lässt die Offiziere, in hellen neutralen Uniformen (Kostüme Michaela Barth) eine farblose Gleichheit zur Schau tragen, es unterscheidet sie im Grunde genommen nichts, mag der eine mit der Pistole spielen, der andere Zeitung lesen. Den Darstellerinnen der Schwestern macht es der Regisseur dadurch schwer. Nur selten ist ihnen der Ausbruch aus Wohlerzogenheit, das Bekenntnis zum eigenen Lebensanspruch erlaubt. Aber es gibt eine ergreifende Abschiedsszene: Die unglücklich verheiratete Mascha (Julia Berke) will sich vom Batteriechef Werschinin (Dirk Lange) nicht trennen, klammert sich am ohne Hoffnung geliebten Mann fest, heftig, wild und endlich ohne jede Scheu.
Sonst aber bleibt auch den Schwestern, so will es Lübbe, Resignation, Trauer, Müdigkeit vorbehalten. Temperament und Leidenschaft dürfen also von der Aufführung, die Tschechows vier Akte auf zwei pausenlose Stunden zusammenzwingt, nicht erwartet werden. Bruchstücke, oft nur Aphorismen sind aus dem überreichen Dialog herausgeholt, Motivationen gekappt, psychologische Abläufe vereinfacht. Beim Abzug der Militärs wird das Geschehen durch Schwarzblenden wie in Scheiben geschnitten. Über jedes Schicksal fällt das Beil. Und die Luftballons des Karnevals zerplatzen, wenn sie nicht längst weggeflogen sind.
Lübbe greift mit beachtlicher Konsequenz die Handlungsunfähigkeit und Glanzlosigkeit einer Gesellschaft an, die ihr Existenzrecht verloren hat. Und sein Ensemble hält im Ineinandergleiten von unbestimmter Sehnsucht und kranker Langeweile hohe Spannung beispielhaft durch.
Der Witz freilich, mit dem am Anfang in einer Schubkarre mit mancherlei sorgsam sortiertem Abfall auch ein bisschen Theatergeschichte hereingefahren, ausgekippt und ironisch (mit erfundenem Text) kommentiert wurde, ist schnell vergessen. Das Arbeitsgefährt lehnt dann unbenutzt vorn am Portal. Vielleicht wird es später mal wieder gebraucht. Für weitere Tschechow-Inszenierungen.

Christoph Funke, Neues Deutschland, 28.01.2009

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Die Zukunft muss warten

Die "Drei Schwestern" von Tschechow habe er schon mal gesehen, erzählt Schauspieler Klaus Schleiff ganz zu Anfang. InMoskau war das - dort, wo sie alle hin wollen in diesem Stück.

Am Ende zerquetscht der eiserne Vorhang noch einen kleinen Koffer - eine Reise wird es nie geben. Nie und nimmer. Natürlich hoffen sie immer. Meinen, sie müssten nur die Provinz verlassen und schon wäre ihr Leben besser. Eine Diskussion, die erstklassig zu Chemnitz passt. Aber eigentlich haben sie das Jammern schon kultiviert, können gar nicht ausbrechen aus der Langeweile. Da kommt Regisseur Enrico Lübbe und lässt sie erstmal auf der Drehbühne trudeln, damit sie sich überhaupt einmal bewegen. Langsam kreisen sie um sich selbst; Bühnenbildner Hugo Gretler hat sogar Auswege geschaffen aus der neonbeleuchteten Sachlichkeit, aber keiner rührt sich. Kurz darauf wird es trotzdem spannend, denn hinter jedem einzelnen steckt ein wahrhaft feiner Charakter. Da ist zum Beispiel die stille Olga von Bettina Schmidt. Allein ihre Anwesenheit hat Kraft, ihre unnahbare Art etwas strenges. Ganz anders die Mascha von Julia Berke. Sie ist zutiefst leidenschaftlich, liebes-hungrig. Und die Irina von Daniela Keckeis dagegen sehr naiv, beinahe kindlich; fast nerv-tötend in ihrer Art. Aber der Baron liebt sie. Und der Baron ist die beste Partie in diesem Kreis. Nicht bei Tschechow, aber in dieser Inszenierung - dank Bernhard Conrad. Es ist einfach grandios, wie leise er die Situation beherrscht, wie er fast nebenbei zum Hoffnungsträger wird. Aber auch Wenzel Banneyer als Andrej ist herrlich verzweifelt, Ulrike Euen als dessen Frau so peinlich-schrill wie aufgesetzt. Da hocken wirklich Leute zusammen die nichts zustande bringen, nicht mal Gefühle, aber dafür ein sehenswertes Panoptikum schaffen. Und sie werden immer besser, je weniger sie sich zu sagen haben. Sitzen sie anfangs noch in lange Diskussionen verstrickt, werden die Szenen immer kürzer, tonloser, regungsloser.
Am Ende sind es gefühlt nur noch Minuten bis zum nächsten Black, mit dem Enrico Lübbe die endlosen Jahre und Tage in dieser Einöde rafft. Und plötzlich ist Schluss: Zurück bleibt die zeitlose Debatte über eine Gesellschaft, die den Wandel stets fordert aber selbst nicht anpackt.

Jenny Zichner, Stadtstreicher, 02.2009

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Eine kleine Sternstunde des Theaters

Enrico Lübbe bringt im Schauspielhaus Chemnitz in einer bemerkenswerten Inszenierung Tschechows "DREI SCHWESTERN" auf die Bühne

Anton Tschechow entwirft mit seinen "Drei Schwestern" ein melancholisches Panorama einer Epoche, deren Protagonisten sich als unfähig erweisen, die eigenen Träume und Sehnsüchte zu verwirklichen. Entfaltet wird das Bild einer wohl situierten Gesellschaftsschicht, die mangels Visionen an ihrer Starre, an Desillusionierung und gepflegtem Selbstmitleid zerbricht.
Der Schauspieldirektor und Regisseur Enrico Lübbe holte das viel inszenierte Stück nun auch auf die Bühne des Chemnitzer Schauspielhauses und führt uns dort im kühl und nüchtern wirkenden, dennoch Eleganz der etablierten Mittelschicht atmenden Salon der Prosorows (Bühne: Hugo Gretler ) eine illustre Runde von Leuten vor, die sich, wenn sie schon mal aktiv werden, dann eigentlich immer nur im Kreise bewegen. Auf dem hinteren Teil der Bühne dreht sich im Schneckentempo das Panoptikum und vorn, wo sie schwadronieren und Nabelschau halten, gerät auch nichts in wirklich zielorientierte Bewegung. Die Damen des Hauses können noch so leidenschaftlich und sehnsuchtsvoll von Moskau reden, wir spüren schon bald, dass die da nie ankommen werden. Ein geradezu ironisch-komisches und doch so entlarvendes Bild entwirft Lübbe, indem er vorn an der Rampe die Herrschaften die "Arbeit" lobpreisen lässt (gleich morgen oder übermorgen oder… wollen sie damit anfangen), wobei aber natürlich keiner auf die Idee kommt, Anfisa unter die Arme zu greifen, wie sie gerade, von der Last des Hausrats tief gebückt, den Raum mühsam durchquert. Lübbe inszeniert zudem erbarmungslos, wie sie alle permanent sich bietende Gelegenheiten, ihr Leben zu ändern, verpassen. Nicht nur die drei Schwestern sowie ihr im örtlichen Apparat der Provinzstadt gestrandeter, das Haus im Spiel verzockender Bruder Andrej, quälen uns Zuschauer mit ihrer Tatenlosigkeit, auch die bei den Prosorows ein- und ausgehenden Offiziere sind außerstande, so etwas wie Aufbruchsstimmung zu verbreiten. Niemandem in der Runde geht es wirklich schlecht, sie alle leben in relativem Wohlstand - und doch machen sich unter ihnen Leere und Resignation breit. Mit präzisem Spiel, ohne jedes aufgesetzt melodramatische Gehabe - gerade deshalb aber umso glaubwürdiger - bringt das Chemnitzer Ensemble genau diese lähmende Stimmung auf den Punkt. Man möchte als Betrachter den Herrschaften Pfeffer in den Hintern blasen und weiß doch genau, dass das bei denen auch nicht mehr hilft.

Enrico Lübbe, seit Beginn der Spielzeit 2008/2009 Schauspieldirektor in Chemnitz, ist mit dem Anspruch, sein Theater gegenüber der Stadt zu öffnen und neue, vor allem auch junge Zuschauer anzusprechen, angetreten. Wie schwer es ist, mit ernsthafter und auf den ersten Blick nicht sonderlich spektakulärer Dramatik dieses hochgesteckte Ziel zu erreichen, wird gerade mit dieser Inszenierung einmal mehr deutlich. Am vergangenen Freitag (wann sonst, wenn nicht an diesem Wochentag, will man ein Haus voll kriegen) und dazu auch noch zur ersten Vorstellung nach der Premiere (!) war der Saal im Schauspielhaus nur ausgesprochen mäßig besetzt. Für beide Seiten schien es deshalb zunächst ein schwieriger Abend zu werden: Für die Zuschauer, weil man sich in dem weiten Raum natürlich recht verloren vorkommt und halbleere Ränge immer auch suggerieren, dass da vielleicht sowieso nichts Besonderes passieren wird, und für die Schauspieler, weil eine solche Situation für deren Spielfreude auch nicht gerade Motivation pur bedeutet. Doch es kam anders und alle Anwesenden bescherten sich an dem Abend eine kleine Sternstunde des Theaters. Vom Regisseur bestens eingestellte Akteure brachten mit unbeirrbarem Willen Tschechowsche Atmosphäre gekonnt auf die Bühne und das zahlenmäßig kleine, bis zum Schluss aber hochkonzentrierte Häuflein unentwegter Zuschauer dankte mit lebhaftem Applaus. Es gab die üblichen Verbeugungen, nach alter Theaterzählweise drei oder vier "Vorhänge" - und (scheinbar) Schluss. Doch fast alle Zuschauer verharrten auf ihren Plätzen, klatschten trotz leerer Bühne weiter und die komplette Truppe, eigentlich den Feierabend schon fest im Visier, kehrte noch einmal auf die Rampe zurück. Der Beifall aus dem Saal brandete erneut auf und sichtlich gerührte Schauspieler reagierten, indem sie in Richtung Publikum applaudierten, ihrerseits mit Dank und Respekt. Für anspruchsvolles Sprechtheater außerhalb der großen Metropolen ist vielleicht doch noch nicht alles verloren!

http://www.theaternarr.de, 02.02.2009

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Negative Kampfposition

Tschechows "Drei Schwestern" schwatzen und leiden irgendwo draußen in der Provinz. Und seit kurzem auch wieder erfolgreich im Chemnitzer Schauspielhaus.

In Hugo Gretlers sich auf das Notwendigste beschränkender Einheitsausstattung, die, assistiert von den Kostümen Michaela Barths, Tschechows um die Wende zum 20. Jahrhundert spielendem Stück eine Art postsozialistischen Touch verleiht, siedelt Enrico Lübbe eine Inszenierung an, die den Autor beim Wort nimmt und somit die zeitlose Allgemeingültigkeit seiner sezierenden Gesellschaftssicht in das treffende Bild rückt.
Die drei in die Provinz verfrachteten Schwestern, junge Menschen mit Idealen, sind eigentlich nichts anderes als Tote auf Abruf. Ihr Bruder eilt ihnen dabei schon einige Werst voraus. Alle, auch die in das Kaff versetzten Offiziere, empfinden ihre Lage als höchst unbefriedigend und aussichtslos. Wer hierher verschlagen wird, sollte jegliche Hoffnung fahren lassen. In endlosen Diskussionen spricht man nur von und für sich, redet aneinander vorbei. Alle "leben in einer gewissen Erwartung, dass sie jemand in eine interessante Zukunft abkommandiert" (W.A. Passe). Wenn Thomas Mann einmal in anderem Zusammenhang von der "Negativität der Kampfposition" schrieb, könnte er damit auch das Tschechowsche Personal gemeint haben. Aktiv werden allenfalls die eher zwielichtig angelegten Figuren, wie die Schwägerin Natalja, die sich das ohnehin mit einer Hypothek belastete Anwesen der Schwestern unter den Nagel reißt, oder der Zyniker Soljony, der den Nebenbuhler - und damit die letzte Hoffnung Irinas - aus dem Weg räumt. Schließlich zerplatzen am Ende die Illusionen wie die als bezeichnendes Gleichnis ins Spiel gebrachten Luftballons.
Lübbe findet für all dies schöne darstellerische Entsprechungen, verweigert sich einer unterkühlten, mit aufgepfropftem Gedankengut versehenen Sicht (wie jüngst Thomas Bischoffs "Galotti"-Deutung), bringt die unfreiwillige Komik des unentwegten Palaverns dezent über die Rampe und berührt mit tief nachempfundenen Details (wenn z.B. die von der Kündigung bedrohte Nanja ihren Kopf Schutz suchend in Olgas Schoß birgt). Hier beeindrucken Muriel Wenger und Bettina Schmidt mit hohem darstellerischem Format. Weil Lübbe die Personen eben nicht karikiert, nimmt auch das Publikum sie ernst. Ein ausnahmslos motiviert agierendes Ensemble verhalf dem Abend zu einem berechtigten Erfolg.

Joachim Weise, Blitz!, 15.02.2009

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  Erstellt am 20.06.2015