KRITIK:
Drei Schwestern
- Enrico Lübbe leuchtet in Chemnitz Tschechows ewiges Sehnsuchtsdrama
aus
Endstation Sehnsucht
auf russisch
Chemnitz, 24. Januar
2009. Die Inszenierung beginnt mit einer "Pause". Soeben hat
Ferapont, der schwerhörige alte Diener, eine Schubkarre von links
herein geschoben und die Ladung wie einen Haufen Gartenerde auf die
Rampe gekippt, allerlei hübsch verschnürte Geschenke, darunter
auch der berühmte Samowar. Nun sitzt er rastend vor dem Publikum,
packt Stulle und Thermoskanne aus und fängt an, vom Stück
zu erzählen. "Drei Schwestern" kennt er nämlich,
das hat er schon mal gesehen: "In Moskau. Das war toll! Toll!"
Aber so toll, erfährt man dann wenige Sätze weiter, war die
Moskauer Tschechow-Aufführung dann auch wieder nicht, sondern eher
dunkel und sterbenslangweilig, so dass Ferapont das meiste verschlief,
während nachher, im Hotel, ein Bräutigam über das Treppengeländer
in den Tod stürzte. Großes Drama. Die Kunst, vom Leben überholt.
Durch das trübe
Glas der Erinnerung
Dann packt
der Alte seinen Kram, steht ächzend auf und pinselt vor dem Abgang
noch etwas in kyrillischer Schrift auf den eisernen Vorhang, das den
Figuren in den nächsten zwei Stunden ganz sicher nicht gelingt:
"Ich gehe." Mit dieser Brechung durch das trübe Glas
der Erinnerung beginnt Enrico Lübbe, der Chemnitzer Schauspielchef,
seine Tschechow-Ausleuchtung.
Einmal mehr verhandelt er die Dramen zwischen Traum und Wirklichkeit.
Das tat er zuletzt auch mit Endstation Sehnsucht, seiner Chemnitzer
Einstands-Inszenierung. Allerdings klebte die manisch am Text und war
darüber klein und museal geraten. Mit Tschechows ewigem Schwermutsdrama,
im Programmheft als "Endstation Sehnsucht, russisch" apostrophiert,
geht es besser.
Das Wohnzimmer im Haus der Geschwister Prosorow darf man sich durchaus
luxuriös vorstellen, nur hat Hugo Gretler (Bühne) den historischen
Kontext gekappt. Das Ambiente mit seiner Spiegelwand und seiner beigen
Eleganz erinnert eher an einen Großverdiener-Haushalt der 1960er
Jahre als an die russische Bourgeoisie um 1900.
Das bekannte
Bild des Stillstands
Die Teppichelemente
allerdings, die sich an den Kanten wie Schelf-Eis übereinander
schieben, erzählen die alte Geschichte vom Niedergang. In diesem
Raum wird vier Akte lang herum gesessen. Viele Beine werden übergeschlagen
und viele Sätze gesprochen gegen Langeweile und Lethargie. Die
Regie legt nichts wesentlich Neues in das Stück, sie kostet es
lediglich aus, arrangiert und konturiert das bekannte Bild des gesellschaftlichen
Stillstands am Ende einer Epoche.
Die Einfälle sind simpel, aber nicht ohne Effekt. Wenn sie etwa
im Leid am Nichtstun über die Großartigkeit der Arbeit schwadronieren,
schiebt bestimmt die von lebenslanger Arbeit gekrümmte Greisin
Anfisa den Staubsauger durch die Sitzgruppe. Oder Andrej, der beruflich
schwer geerdete Bruder von Olga, Mascha und Irina, fischt schon wieder
eine Hand voll Chips aus der Chipstüte, die er bei sich führt
wie ein Mechaniker seinen Lumpen. Und wenn in diesem mit Resignation
gefüllten Villen-Wartesaal sich doch einmal das Schweigen dehnt,
hat bestimmt noch jemand eine Kaffeetasse, mit der sich erlösend
klappern lässt.
Mit anderen Worten: Enrico Lübbe bleibt seinem schnörkellosen
und für seine 33 Jahre überraschend konventionellen Regiestil
treu. An keiner Stelle fährt er dem Autor in die Parade, lieber
schaut er ihm fasziniert über die Schulter. Wo Sebastian Hartmann
im nahen Leipzig seine postdramatische Show abzieht, begnügt er
sich mit präziser Schauspielerführung und einzelnen, garantiert
nicht von Originalitätssucht gemalten Bildern.
Fallende Masken
der Vereinsamten
Eines
zeigt Luftballons, die ungefähr auf Hüfthöhe im Raum
hängen bleiben wie die Figuren mit ihrem Lebenshunger und ihrem
Liebesdurst, irgendwo zwischen dem desillusionierenden Boden der Garnisonsstadt
und dem verlorenen Sehnsuchtsort Moskau. Alles schon mal dagewesen -
wohl wahr.
Letztlich sehen wir Vereinsamende, deren Masken gut zwei Stunden lang
fallen. Der Andrej von Wenzel Banneyer, eine der stärksten Figuren
des Abends, vereinsamt in rasender Unruhe. Seine Frau Natalija, von
Ulrike Euen als Gattinnen-Tussi angelegt, vereinsamt in kleinbürgerlichen
Großbürger-Allüren. Bettina Schmidts Olga vereinsamt
in Zurückhaltung, Julia Berkes Mascha in emotionaler Kälte
und Hitze, Daniela Keckeis' Irina in herber Distanz.
Den Ausbruch aus der Provinz wollen sie alle, doch keiner wagt den Aufbruch
"nach Moskau, nach Moskau, nach Moskau". Insofern nichts Neues
in Chemnitz.
von
Ralph Gambihler http://www.nachtkritik.de
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Drei
Schwestern in Chemnitz: beißend absurd und sehr komisch
Sehr
geehrter Herr Gambihler,
aufgrund einer positiven Besprechung in der Leipziger Volkszeitung waren
wir gestern abend in den Chemnitzer "Drei Schwestern". Und
es hat uns überwältigt. Nicht nur dass wir von der atem- und
pausenlosen Fassung der zweistündigen Aufführung begeistert
waren. "Drei Schwestern" in eine solche Bösartigkeit
zu führen, häufig beißend absurd und sehr komisch. Ohne
jedes Mitgefühl für die Figuren, sie aber dennoch nicht vorzuführen
oder zu karikieren. Was für tolle Bilder (der Feuerakt, die schmerzenden
Schnitte im Abschiedsakt) und was für hervorragende Schauspieler!
Von alledem finden wir in Ihrer "Kritik" nichts. "Nichts
neues in Chemnitz" schreiben Sie und führen als Vergleich
Herrn Hartmann in Leipzig an. Warum? Ist Hartmann "neu" für
Sie? Wie alt sind Sie? Woher kommen Sie? Mein Mann und ich haben schon
die unterschiedlichsten Theorien aufgestellt, dass Sie aus Berlin kommen
und sowieso alles was außerhalb der "Hauptstadt" zu
sehen ist, zu provinziell finden. Oder Sie sind aus Leipzig (vielleicht
sogar Mitarbeiter von Herrn Hartmann) und müssen das dortige "Theater"
verteidigen und den, wie in der LVZ-Kritik beschriebenen, momentan auffällig
steigenden Theatertourismus von Leipzig nach Chemnitz stoppen. Oder
sind Sie aus dem Chemnitzer Vorgängerteam von Herrn Lübbe
und aufgrund persönlicher Verstrickungen (Entlassung?) aufgebracht?
Bitte erklären Sie es uns! Aber bitte nicht mit dem üblichen
Blabla von wegen "Kritik ist nur subjektiv" oder "das
ist ja nur meine Meinung" oder "Theater ist auch eine Geschmacksfrage".
Das wissen wir schon.
von
Diana und Jens W., Markkleeberg, 31.01.2009, http://www.nachtkritik.de
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Drei
Schwestern in Chemnitz: Nachtkritikerwirklichkeit
Sehr
geehrte Theatergänger aus Markkleeberg,
ich gestehe: Sie überraschen mich! Bislang hätte ich nicht
gedacht, dass meine Leser so ausgiebig über meinen biografischen
Hintergrund/beruflichen Werdegang etc. spekulieren könnten. Nun
weiß ich es besser, es gibt also "Theorien". Die dazu
gehörige Wirklichkeit sieht relativ schlicht aus. In Kurzform ist
sie auf nachtkritk.de in der AutorInnenliste nachzulesen, die Sie unter
"Impressum" leicht finden werden. Dort können Sie erfahren,
dass ich nicht aus der Hauptstadt stamme, kein Hartmann-Mitarbeiter
bin, kein Chemnitz-Entlassener etc. Darüber hinaus kann ich Ihnen
versichern, dass ich auch sonst keinen Grund habe, missgünstig,
rachsüchtig oder sonstwie emotional depraviert nach Chemnitz zu
blicken, sondern einfach nur die "Drei Schwestern" von Enrico
Lübbe nicht ganz so großartig fand wie Sie, übrigens
aber auch, wie meinem Text durchaus zu entnehmen, keineswegs schlecht.
Die von Ihnen angesprochene Rezension in der Leipziger Volkszeitung
schrieb, noch einmal übrigens, eine langjährige und geschätzte
Kollegin von mir. Ich hatte Gelegenheit, vor der Niederschrift meiner
Besprechung mit ihr über die Inszenierung zu sprechen, denn wir
waren in Fahrgemeinschaft von Leipzig nach Chemnitz gekommen und fuhren
auch wieder gemeinsam zurück. Wir waren uns nicht ganz einig, weit
auseinander lagen wir aber auch nicht. Ach ja, das Hartmann-Theater!
Warum habe ich mich darauf bezogen? Weil es eine programmatische Gegenposition
einimmt. Eine Wertung nach dem Schema "Hartman super, Lübbe
mies" ist damit nicht verbunden, nicht einmal ansatzweise.
von
Ralph Gambihler, 02.02.2009, http://www.nachtkritik.de
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Erstarrt
in ewigen Debatten
"Drei Schwestern"
scheitern mit ihrer Sehnsucht nach dem Leben - Viel Beifall für
Tschechow-Klassiker in Chemnitz
Chemnitz. Krachend
zerbirst das Köfferchen, als sich am Ende der eiserne Vorhang senkt.
Gerade noch hatte sich Irina daran krampfhaft festgehalten. Es war schon
nur noch winzig, dieses letzte Utensil des Aufbruchs. Den es nicht geben
wird. Jetzt ist auch die letzte Hoffnung kaputt. Nun wird nichts mehr
kommen. Wie bei Olga, Mascha und Irina langsam die Gewissheit darüber
wächst, dass sie die Provinz nie verlassen werden - das inszeniert
Enrico Lübbe im Chemnitzer Schauspielhaus ohne Unterbrechung. Anton
Tschechows Klassiker "Drei Schwestern" hatte am Samstag Premiere
und erntete viel Beifall.
Die Pause gibt es witzigerweise gleich am Anfang des Abends. Klaus Schleiff
macht diese als Diener der Zemstvoverwaltung. Dann schreibt er in großen
kyrillischen Lettern "Ich gehe" an die Wand. Und (fast) bis
zum Schluss prangt diese Absichtserklärung über der Szenerie.
Aber genau das tun sie eben nicht, die Figuren aus dem Seelendrama des
großen Russen. Sie schaffen es einfach nicht, sich aus ihrer Pause,
ihrem Warten auf Veränderung zu lösen. Hugo Gretler hat den
Salon der Familie Prosorow in blasser Eintönigkeit gehalten. Die
Langeweile lauert hier in allen Ritzen, auch wenn zunächst in den
müden Geselligkeiten der Schwestern und ihrer Gäste noch so
etwas wie leise Heiterkeit mitschwingt, weil man das ja bald hinter
sich lassen wird, wie man versichert. Man schwadroniert beständig
über den Segen der Arbeit, während einzig Dienerin Anfisa
(Muriel Wenger) unaufhörlich im Hintergrund werkelt. Der eigene
Impuls zum Handein wird erstickt von ewigen Debatten ins Leere.
Fast unmerklich schleicht sich die große Resignation ein. Man
wird dieses öde Dasein aushalten. Irgendwie. Nicht gewollt, aber
pragmatisch wird Olga, die bei Bettina Schmidt etwas blass bleibt, Direktorin
des Gymnasiums. Die unglücklich verheiratete Mascha (Julia Berke)
gesteht ihre Liebe zu Oberstleutnant Werschiin (Dirk Lange), an den
sie sich ebenso verzweifelt wie vergeblich klammert, als das Militär
die Stadt verlässt. Luftballons, die sie wie kleine Hoffnungszeichen
im Raum verteilt hatte, werden von Bruder Andrej (Wenzel Banneyer) aus
dem Weg geräumt. Denn der ist, früher schon als seine Schwestern,
im drögen Alltag angekommen - was er mit Unmengen von Kartoffel-Chips
und selbstbetrügerischen Beteuerungen über sein zufriedenes
Dasein betäubt. Diese Reden spart sich Irina (Daniela Keckeis),
die keinen ihrer beiden Verehrer mag, am Ende jedoch einen heiratet
und einer trüben Zukunft entgegengeht.
Der Arzt Tschechow hat als Autor keine Therapie für seine Figuren.
Aber er ist ein glänzender Diagnostiker. Lübbe nimmt das auf,
drängt sich als Regisseur nicht vor und inszeniert mit steigender
Spannung eine emüchternde Analyse der Stagnation, des selbst verschuldeten
Scheiterns.
Uta
Trinks, Freie Presse, 26.01.2009
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Viel
Beifall für Anton Tschechows Drama am Chemnitzer Schauspiel
"Drei Schwestern":
Kaputt, putt, putt
CHEMNITZ - "Ich
wünschte, mich gäbe es nicht!", greint ein oller, seniler
Militärarzt - und ist dicht dran an des Rätsels Lösung,
warum Anton Tschechows Drama "Drei Schwestern" (1901) immer
und immer mal wieder auf den Spielplan kommt.
Russischer Landsitz,
reiche Nichtstuer-Familie, die Schwestern Olga, Mascha, Irina hätten
gern einen oder einen neuen Mann, dazu schneidig-dumme Offiziere, große
Langeweile, diverse Ausbruchsversuche - man wünscht sich danach
wirklich, dass es diese stinkendfaulen, linkspfötigen Klugscheißer
nicht gäbe.
Es gibt sie aber heute noch, meinte offensichtlich Schauspielchef Enrico
Lübbe am Premierensonnabend im Chemnitzer Schauspiel mit seiner
semispannenden, erfrischenden, jedenfalls lange und freudig beklatschten
Inszenierung. Er hat gut daran getan, diese lähmende Tagedieberei
in der russischen Provinz auf zwei Stunden (ohne Pause und Birken) herunterzupeppen.
Man pennt und lungert in so was wie der Koje einer schwedischen Möbelhauskette
(klare Bühne Hugo Gretler) herum, jeder redet mal was, keiner hört
zu. Klingt nicht gerade reißerisch, ist aber hübsch irdisch
und oft zum Kichern heiter: "Mich dürstet nach Kampf und Arbeit!",
blökt wichtigtuerisch der Nichtstuer, "Mein Bobik hat Mami
gesagt!", plärrt Mutti, "Putt, putt, putt!", gackert
sarkastisch eine uniformierte Nulpe, "Ehefrau ist Ehefrau, aber
kein Mensch!", jammert ein einsam und heftig an sich herumrubbelnder
Ehemann. Alles kaputte Versagertypen.
Lübbe macht das ganz locker und als ein echtes Schauspielerstück
für ein großes und gut aufgelegtes Ensemble, vornweg Wenzel
Banneyer als dummverheirateter Bruder Andrej, Bernhard Conrad als zumindest
verbal heirats- und arbeitswilliger Baron, Ulrike Euen mit glaubwürdigem
Wechsel vom Trampel zum eingeheirateten Miststück, dazu die Schwestern
Bettina Schmidt (bewegend grüblerisch), Julia Berke (beherrscht
unbeherrscht), Daniela Keckeis (schön scheinheilig), Bernd-Michael
Baier sowie Muriel Wenger als alte Dienstmagd.
Lübbe lässt anfangs eine alte Quasselstrippe (Klaus Schleiff)
mit Schubkarre, Bemme, Pinsel und Pausenschild die ganze Sache anekdotisch
eröffnen, "Deutsche Ärsche wollen es hübsch gemütlich
haben" sinnieren und "Gehe" in kyrillischen Buchstaben
an die Wand pinseln. Zum Schluss werden dann merkwürdigerweise
nur noch schlaglichtartige Szenen dieser trostlosen Beziehungen gezeigt.
Vorn Geschwätz, hinten steht "Ausgang", aber kein Ausweg
in Sicht. Schließlich quetscht der fallende Vorhang einen Koffer.
"Ups, das war wohl nicht so gewollt", flüstert's im Parkett.
Wohl doch: Alles bleibt, wie es war, keiner geht, nur das Leben geht
vorbei. Wie sagte Mascha: "Das Leben ist schön, unseres wird
danebengehen."
Ch.
Hamann-Pönisch, Chemnitzer Morgenpost, 26.01.2009
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Der
Traum von Moskau - Anton Tschechows "Drei Schwestern" in der
Regie von Enrico Lübbe
Nur
die Sehnsucht bleibt
Er
ist ein Großmeister unter den Autoren: Anton Tschechow. Und seine
"Drei Schwestern" gehören zu den Stücken, die die
Augen von Regisseuren wie Schauspielern leuchten lassen. In Chemnitz
hat sie jetzt der neue Schauspielchef Enrico Lübbe inszeniert.
Der Bahnhof ist 20 Werst entfernt, die Provinzstadt so öde wie
nett. Der passende Ort zum Reden: über den Wert der Arbeit, die
erst den Menschen komplett macht, über Vernunft und Sünde,
Krieg und Moral. Über die ewige Sehnsucht, gut zu sein, tüchtig
und nützlich, zu lieben und geliebt zu werden In den lichten Birkenwäldern
Russlands, in diesem Fall auf albernes Bonsaiformat reduziert, ist schön
traurig sein beim Meditieren über "früher" oder
"bald". Das Jetzt mit allen bitteren Enttäuschungen und
gähnenden Abgründen kommt in lähmendem Schweigen zum
Zug, höchstens einem flüchtigen leidenschaftlichen Moment.
Lübbe inszeniert gemessen; dass ein Protagonist kurz keuchend onaniert,
löst im Saal schon erschrecktes Hüsteln aus. Ein Hartmann-geübter
Theatergänger in Leipzig wäre längst auf anderes gefasst.
Doch hier, ein paar Hügel südlicher, wird nicht gebrüllt
und geblutet und entblößt. Hier wird das mit der Werktreue
noch wörtlich genommen, ein Stück nicht bloß als Material.
Aber anders als bei seiner Einstiegs-Premiere mit Tennessee Williams
"Endstation Sehnsucht", als das Prinzip gediegen staubige
Langeweile erzeugte, gerät dieser Lübbe-Abend keineswegs zu
einem, an dem man dauernd zur Uhr schaut. Zwar bringt er kaum Überraschungen,
doch immerhin solides Handwerk, mit hübschen Einfällen. Und
eben einmal mehr die Erkenntnis, dass Sinnsuche ein ewiges Thema ist.
Egal, ob sie in 100 Jahre altem adligen Ambiente stattfindet oder in
einer elegant sandfarbenen Wohnlandschaft wohlsituierter Bürger
der 1960er (Bühne: Hugo Gretler), die wahlweise mit Luftballons
poetisch aufgepeppt wird oder durch erstarrte Gruppenbildung zum Symbol
für bleierne Verhältnisse.
Die hinreißenden Schwestern Irina, Mascha und Olga, die es halbwüchsig
mit dem Generalsvater in die Gouvernementsmetropole verschlug, sind
hoch gebildet und tief verzweifelt. Der Vater ist tot, das Haus vereinsamt,
die immerselben Offiziere führen dort die immerselben Gespräche.
Die Tage vergehen, das Leben verrinnt, während Mascha ihren Ehemann
mit dem neuen Brigadekommandeur betrügt, dem flotten Werschinin
aus Moskau. Während Andrej, der eigentlich zum Professor bestimmte
Bruder der drei Heldinnen, Hals über Kopf Natalja heiratet, die
klirrend herrschsüchtig die Familie dominiert, Erben zur Welt bringt
und mit Andrejs Vorgesetztem anbandelt. Während auch die rührend
schwärmerischen Träume von Irina, der jüngsten, mit dem
endlich Auserwählten sterben. Als, unaufhaltsam, so das Schicksal
seinen Lauf nimmt, gewinnt Lübbes Regie an Tempo und Kontrast.
Werden die Szenen, von schwarzer Dunkelheit getrennt, immer atemloser.
Dabei hat es harmlos begonnen. Mit dem listig tauben Diener Ferapont,
der in einer Schubkarre die Geschenke zu Irinas Namenstag herankarrt
und bei der Gelegenheit, "Pause" verkündend, berichtet,
wie er in Moskau, im berühmten Theater an der Taganka, Tschechows
"Schwestern" erstmals begegnete. "Das war toll!"
Fast so toll wie dann die wodkaselige Fortsetzung im Hotel, wo allerdings
ein Bräutigam übers Treppengeländer abstürzte. So
ist das mit der Kunst, der Realität und der Erinnerung - etwa im
Theater.
Das in Chemnitz überzeugt durch Schauspiel-Qualität: Bettina
Schmidt (Olga), Julia Berke (Mascha) und Daniela Keckeis (Irina) sind
großartig. Ebenso Wenzel Banneyer als genervter Bruder, Ulrike
Euen als dessen Gattin, Michael Pempelforth als Maschas düpierter
Eheherr sowie Dirk Lange als Werschinin Überaus freundlicher Beifall
belohnt ein sichtlich engagiertes Ensemble.
Gisela
Hoyer, Leipziger-Volkszeitung, 27.01.2009
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Schwächlinge
in starken Bildern
Das
Schauspiel Chemnitz spielt "Drei Schwestern" von Tschechow
in einer beeindruckenden Fassung.
Die
"Drei Schwestern" von Tschechow habe er schon mal gesehen,
erzählt Schauspieler Klaus Schleiff vom Theater Chemnitz ganz zu
Anfang. In Moskau war das, sagt er, dort, wo sie alle hin wollen in
diesem Stück. Zwei Stunden später zerquetscht der eiserne
Vorhang noch einen kleinen Koffer - eine Reise wird es nie geben.
Der Regisseur lässt
trudeln
Natürlich hoffen
die Protagonisten des Stücks immer, debattieren über das Morgen,
über gesellschaftliche Utopien, aber können einfach nicht
entkommen. Olga nicht, Mascha nicht, Irina nicht, der Bruder Andrej
nicht und auch keiner der Offiziere, die sich regelmäßig
im Haus der gebildeten Familie treffen. Sie alle haben die Langeweile
schon kultiviert, da kommt Regisseur Enrico Lübbe und lässt
sie erst mal auf der Drehbühne trudeln, damit sie sich überhaupt
einmal bewegen. Langsam kreisen sie um sich selbst.
Bühnenbildner
Hugo Gretler hat sogar Auswege geschaffen aus der neonbeleuchteten Sachlichkeit,
aber keiner rührt sich. Kurz darauf wird es trotzdem spannend,
denn hinter jedem Einzelnen in dieser starren Runde steckt ein wahrhaft
feiner Charakter. Bettina Schmidt zum Beispiel wirkt im Stillen. Ihre
Olga wankt zwischen Pflichtbewusstsein und Dekadenz, ihre Anwesenheit
hat Kraft, auch wenn sie sich kaum einmischt.
Die Ödnis wird
gerafft
Dagegen ist die
Mascha von Julia Berke ein zutiefst leidenschaftliches Weib, sie lebt
aus und plauzt heraus. Was die Irina von Daniela Keckeis nun wiederum
nicht kann. Sie ist vielmehr ein naives Kindchen von schwermütigem
Wesen; fast nervtötend in ihrer Art. Aber der Baron liebt sie.
Und der Baron ist die beste Partie in diesem Kreis. Nicht bei Tschechow,
aber in dieser Inszenierung - dank Bernhard Conrad. Es ist einfach grandios
zu sehen, wie leise er die Situation beherrscht, wie schüchtern
er um die Liebe ringt und wie unsicher er den Ausbruch aus der Tatenlosigkeit
versucht.
Aber auch Wenzel
Banneyer als Andrej ist herrlich verzweifelt, Ulrike Euen als dessen
Frau so peinlich wie schrill und aufgesetzt. Da hocken wirklich Leute
zusammen, die mal abgesehen von ihrer immensen Unbeweglichkeit und emotionalen
Abgestumpftheit ein sehenswertes Panoptikum schaffen. Und sie werden
immer besser, je weniger sie sich zu sagen haben. Sitzen sie anfangs
noch in lange Diskussionen verstrickt, werden die Szenen immer kürzer,
tonloser, regungsloser. Am Ende sind es gefühlt nur noch Minuten
bis zum nächsten Black, mit dem Enrico Lübbe die endlosen
Jahre und Tage in dieser öden Provinz rafft.
Und plötzlich
ist Schluss: Die Offiziere ziehen weiter, der Idealist ist erschossen,
die halbe Stadt abgebrannt und der Koffer entzwei. Zurück bleibt
die zeitlose Debatte über eine Gesellschaft, die den Wandel stets
fordert aber selbst nicht vollbringen kann.
Jenny
Zichner, SZ-Online, 27.01.2009
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Über
Jedem das Beil
"Drei
Schwestern" von Anton Tschechow in Chemnitz
In
den drei größten sächsischen Städten, Leipzig,
Dresden und Chemnitz, gehen die Schauspiel-Theater neue Wege - oder
stehen vor dem Umbruch.
Sebastian Hartmann hat in Leipzig das Zepter übernommen und das
Ensemble von Wolfgang Engel aufgelöst. Durchweg neu engagierte
Künstler sind am Werk, Vergangenes darf vor dem Neuen offenbar
keinen Bestand haben, und so heißt das Schauspielhaus jetzt "Centraltheater",
und die "Neue Szene", das theatergeschichtlich bedeutsame
kleine Experimentiertheater, darf sich "Skala" nennen. Ob
Hartmann mit seiner Radikalität Erfolg haben wird, bleibt nach
heftig umstrittenen Aufführungen noch ungewiss.
Während in Dresden Wilfried Schulz aus Hannover den langjährigen
Intendanten Holk Freytag im August ablösen wird, hat in Chemnitz
Enrico Lübbe in der Nachfolge von Katja Paryla die Arbeit als Schauspieldirektor
bereits aufgenommen. Mit der Uraufführung von Ulrike Syhas Stück
"Privatleben" (Regie Dieter Beyer) ist dem neu formierten
Ensemble schon ein beachtlicher Erfolg gelungen. Das Wagnis mit Tschechows
Drama "Drei Schwestern", das Enrico Lübbe am vergangenen
Wochenende herausbrachte, war also gut vorbereitet. Keine Unruhe.
Vor einer Gitterwand, im trägen Rhythmus eines sich langsam drehenden
Bühnensegments, sind Menschen versammelt, die nicht wissen, ob
sie Leben haben oder nur Leben spielen. Eine fiebrige Erwartung herrscht,
die immer wieder in sich zusammenfällt. Monologe plätschern
dahin, dann ist Stille. Bis sich doch einer mühsam zum Reden aufrafft.
Wie in einem Sandkasten rieseln die Schicksale der zufällig Versammelten
dahin, gewinnen keine Festigkeit. Erinnern wir uns: In einer russischen
Provinzstadt zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, "ähnlich
Perm", schrieb Tschechow, leben die drei Töchter eines verstorbenen
Brigadekommandeurs - ihr Haus bleibt Treffpunkt der Offiziere, gesellschaftlicher
Mittelpunkt in öder Abgeschiedenheit. Nur eine Hoffnung beseelt
Olga, Mascha, Irina - wieder nach Moskau heimkehren zu können.
Ihre Sehnsucht aber bleibt unerfüllt, Eheschließungen enden
so kläglich wie Liebesversuche, keine Bindung hält, und am
Ende sind die drei jungen Frauen so hoffnungslos allein wie nie zuvor.
"Ist doch alles egal", brabbelt der vor der Pension stehende
Militärarzt vor sich hin, zu faul, um der abziehenden Truppe zu
folgen. Auf diesen Satz treibt die Inszenierung von Enrico Lübbe
im Bühnenbild von Hugo Gretler zu. Sie zeigt einen lähmenden
Zustand und ist nicht darauf aus, Schuldige an dieser Lage zu finden,
oder Aufrührer zu feiern. Die auf der Bühne stehenden Figuren
reden wie unter Zwang von Arbeit, die endlich getan werden muss - keiner
macht den Anfang dazu. Alle wollen ein großes Gefühl für
sich, und sie sind zu schwach, selbst eine kleine Hoffnung festzuhalten.
Lübbe lässt die Offiziere, in hellen neutralen Uniformen (Kostüme
Michaela Barth) eine farblose Gleichheit zur Schau tragen, es unterscheidet
sie im Grunde genommen nichts, mag der eine mit der Pistole spielen,
der andere Zeitung lesen. Den Darstellerinnen der Schwestern macht es
der Regisseur dadurch schwer. Nur selten ist ihnen der Ausbruch aus
Wohlerzogenheit, das Bekenntnis zum eigenen Lebensanspruch erlaubt.
Aber es gibt eine ergreifende Abschiedsszene: Die unglücklich verheiratete
Mascha (Julia Berke) will sich vom Batteriechef Werschinin (Dirk Lange)
nicht trennen, klammert sich am ohne Hoffnung geliebten Mann fest, heftig,
wild und endlich ohne jede Scheu.
Sonst aber bleibt auch den Schwestern, so will es Lübbe, Resignation,
Trauer, Müdigkeit vorbehalten. Temperament und Leidenschaft dürfen
also von der Aufführung, die Tschechows vier Akte auf zwei pausenlose
Stunden zusammenzwingt, nicht erwartet werden. Bruchstücke, oft
nur Aphorismen sind aus dem überreichen Dialog herausgeholt, Motivationen
gekappt, psychologische Abläufe vereinfacht. Beim Abzug der Militärs
wird das Geschehen durch Schwarzblenden wie in Scheiben geschnitten.
Über jedes Schicksal fällt das Beil. Und die Luftballons des
Karnevals zerplatzen, wenn sie nicht längst weggeflogen sind.
Lübbe greift mit beachtlicher Konsequenz die Handlungsunfähigkeit
und Glanzlosigkeit einer Gesellschaft an, die ihr Existenzrecht verloren
hat. Und sein Ensemble hält im Ineinandergleiten von unbestimmter
Sehnsucht und kranker Langeweile hohe Spannung beispielhaft durch.
Der Witz freilich, mit dem am Anfang in einer Schubkarre mit mancherlei
sorgsam sortiertem Abfall auch ein bisschen Theatergeschichte hereingefahren,
ausgekippt und ironisch (mit erfundenem Text) kommentiert wurde, ist
schnell vergessen. Das Arbeitsgefährt lehnt dann unbenutzt vorn
am Portal. Vielleicht wird es später mal wieder gebraucht. Für
weitere Tschechow-Inszenierungen.
Christoph
Funke, Neues Deutschland, 28.01.2009
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Die
Zukunft muss warten
Die
"Drei Schwestern" von Tschechow habe er schon mal gesehen,
erzählt Schauspieler Klaus Schleiff ganz zu Anfang. InMoskau war
das - dort, wo sie alle hin wollen in diesem Stück.
Am Ende zerquetscht
der eiserne Vorhang noch einen kleinen Koffer - eine Reise wird es nie
geben. Nie und nimmer. Natürlich hoffen sie immer. Meinen, sie
müssten nur die Provinz verlassen und schon wäre ihr Leben
besser. Eine Diskussion, die erstklassig zu Chemnitz passt. Aber eigentlich
haben sie das Jammern schon kultiviert, können gar nicht ausbrechen
aus der Langeweile. Da kommt Regisseur Enrico Lübbe und lässt
sie erstmal auf der Drehbühne trudeln, damit sie sich überhaupt
einmal bewegen. Langsam kreisen sie um sich selbst; Bühnenbildner
Hugo Gretler hat sogar Auswege geschaffen aus der neonbeleuchteten Sachlichkeit,
aber keiner rührt sich. Kurz darauf wird es trotzdem spannend,
denn hinter jedem einzelnen steckt ein wahrhaft feiner Charakter. Da
ist zum Beispiel die stille Olga von Bettina Schmidt. Allein ihre Anwesenheit
hat Kraft, ihre unnahbare Art etwas strenges. Ganz anders die Mascha
von Julia Berke. Sie ist zutiefst leidenschaftlich, liebes-hungrig.
Und die Irina von Daniela Keckeis dagegen sehr naiv, beinahe kindlich;
fast nerv-tötend in ihrer Art. Aber der Baron liebt sie. Und der
Baron ist die beste Partie in diesem Kreis. Nicht bei Tschechow, aber
in dieser Inszenierung - dank Bernhard Conrad. Es ist einfach grandios,
wie leise er die Situation beherrscht, wie er fast nebenbei zum Hoffnungsträger
wird. Aber auch Wenzel Banneyer als Andrej ist herrlich verzweifelt,
Ulrike Euen als dessen Frau so peinlich-schrill wie aufgesetzt. Da hocken
wirklich Leute zusammen die nichts zustande bringen, nicht mal Gefühle,
aber dafür ein sehenswertes Panoptikum schaffen. Und sie werden
immer besser, je weniger sie sich zu sagen haben. Sitzen sie anfangs
noch in lange Diskussionen verstrickt, werden die Szenen immer kürzer,
tonloser, regungsloser.
Am Ende sind es gefühlt nur noch Minuten bis zum nächsten
Black, mit dem Enrico Lübbe die endlosen Jahre und Tage in dieser
Einöde rafft. Und plötzlich ist Schluss: Zurück bleibt
die zeitlose Debatte über eine Gesellschaft, die den Wandel stets
fordert aber selbst nicht anpackt.
Jenny
Zichner, Stadtstreicher, 02.2009
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Eine
kleine Sternstunde des Theaters
Enrico
Lübbe bringt im Schauspielhaus Chemnitz in einer bemerkenswerten
Inszenierung Tschechows "DREI SCHWESTERN" auf die Bühne
Anton Tschechow
entwirft mit seinen "Drei Schwestern" ein melancholisches
Panorama einer Epoche, deren Protagonisten sich als unfähig erweisen,
die eigenen Träume und Sehnsüchte zu verwirklichen. Entfaltet
wird das Bild einer wohl situierten Gesellschaftsschicht, die mangels
Visionen an ihrer Starre, an Desillusionierung und gepflegtem Selbstmitleid
zerbricht.
Der Schauspieldirektor und Regisseur Enrico Lübbe holte das viel
inszenierte Stück nun auch auf die Bühne des Chemnitzer Schauspielhauses
und führt uns dort im kühl und nüchtern wirkenden, dennoch
Eleganz der etablierten Mittelschicht atmenden Salon der Prosorows (Bühne:
Hugo Gretler ) eine illustre Runde von Leuten vor, die sich, wenn sie
schon mal aktiv werden, dann eigentlich immer nur im Kreise bewegen.
Auf dem hinteren Teil der Bühne dreht sich im Schneckentempo das
Panoptikum und vorn, wo sie schwadronieren und Nabelschau halten, gerät
auch nichts in wirklich zielorientierte Bewegung. Die Damen des Hauses
können noch so leidenschaftlich und sehnsuchtsvoll von Moskau reden,
wir spüren schon bald, dass die da nie ankommen werden. Ein geradezu
ironisch-komisches und doch so entlarvendes Bild entwirft Lübbe,
indem er vorn an der Rampe die Herrschaften die "Arbeit" lobpreisen
lässt (gleich morgen oder übermorgen oder
wollen sie
damit anfangen), wobei aber natürlich keiner auf die Idee kommt,
Anfisa unter die Arme zu greifen, wie sie gerade, von der Last des Hausrats
tief gebückt, den Raum mühsam durchquert. Lübbe inszeniert
zudem erbarmungslos, wie sie alle permanent sich bietende Gelegenheiten,
ihr Leben zu ändern, verpassen. Nicht nur die drei Schwestern sowie
ihr im örtlichen Apparat der Provinzstadt gestrandeter, das Haus
im Spiel verzockender Bruder Andrej, quälen uns Zuschauer mit ihrer
Tatenlosigkeit, auch die bei den Prosorows ein- und ausgehenden Offiziere
sind außerstande, so etwas wie Aufbruchsstimmung zu verbreiten.
Niemandem in der Runde geht es wirklich schlecht, sie alle leben in
relativem Wohlstand - und doch machen sich unter ihnen Leere und Resignation
breit. Mit präzisem Spiel, ohne jedes aufgesetzt melodramatische
Gehabe - gerade deshalb aber umso glaubwürdiger - bringt das Chemnitzer
Ensemble genau diese lähmende Stimmung auf den Punkt. Man möchte
als Betrachter den Herrschaften Pfeffer in den Hintern blasen und weiß
doch genau, dass das bei denen auch nicht mehr hilft.
Enrico Lübbe,
seit Beginn der Spielzeit 2008/2009 Schauspieldirektor in Chemnitz,
ist mit dem Anspruch, sein Theater gegenüber der Stadt zu öffnen
und neue, vor allem auch junge Zuschauer anzusprechen, angetreten. Wie
schwer es ist, mit ernsthafter und auf den ersten Blick nicht sonderlich
spektakulärer Dramatik dieses hochgesteckte Ziel zu erreichen,
wird gerade mit dieser Inszenierung einmal mehr deutlich. Am vergangenen
Freitag (wann sonst, wenn nicht an diesem Wochentag, will man ein Haus
voll kriegen) und dazu auch noch zur ersten Vorstellung nach der Premiere
(!) war der Saal im Schauspielhaus nur ausgesprochen mäßig
besetzt. Für beide Seiten schien es deshalb zunächst ein schwieriger
Abend zu werden: Für die Zuschauer, weil man sich in dem weiten
Raum natürlich recht verloren vorkommt und halbleere Ränge
immer auch suggerieren, dass da vielleicht sowieso nichts Besonderes
passieren wird, und für die Schauspieler, weil eine solche Situation
für deren Spielfreude auch nicht gerade Motivation pur bedeutet.
Doch es kam anders und alle Anwesenden bescherten sich an dem Abend
eine kleine Sternstunde des Theaters. Vom Regisseur bestens eingestellte
Akteure brachten mit unbeirrbarem Willen Tschechowsche Atmosphäre
gekonnt auf die Bühne und das zahlenmäßig kleine, bis
zum Schluss aber hochkonzentrierte Häuflein unentwegter Zuschauer
dankte mit lebhaftem Applaus. Es gab die üblichen Verbeugungen,
nach alter Theaterzählweise drei oder vier "Vorhänge"
- und (scheinbar) Schluss. Doch fast alle Zuschauer verharrten auf ihren
Plätzen, klatschten trotz leerer Bühne weiter und die komplette
Truppe, eigentlich den Feierabend schon fest im Visier, kehrte noch
einmal auf die Rampe zurück. Der Beifall aus dem Saal brandete
erneut auf und sichtlich gerührte Schauspieler reagierten, indem
sie in Richtung Publikum applaudierten, ihrerseits mit Dank und Respekt.
Für anspruchsvolles Sprechtheater außerhalb der großen
Metropolen ist vielleicht doch noch nicht alles verloren!
http://www.theaternarr.de,
02.02.2009
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Negative
Kampfposition
Tschechows
"Drei Schwestern" schwatzen und leiden irgendwo draußen
in der Provinz. Und seit kurzem auch wieder erfolgreich im Chemnitzer
Schauspielhaus.
In Hugo Gretlers
sich auf das Notwendigste beschränkender Einheitsausstattung, die,
assistiert von den Kostümen Michaela Barths, Tschechows um die
Wende zum 20. Jahrhundert spielendem Stück eine Art postsozialistischen
Touch verleiht, siedelt Enrico Lübbe eine Inszenierung an, die
den Autor beim Wort nimmt und somit die zeitlose Allgemeingültigkeit
seiner sezierenden Gesellschaftssicht in das treffende Bild rückt.
Die drei in die Provinz verfrachteten Schwestern, junge Menschen mit
Idealen, sind eigentlich nichts anderes als Tote auf Abruf. Ihr Bruder
eilt ihnen dabei schon einige Werst voraus. Alle, auch die in das Kaff
versetzten Offiziere, empfinden ihre Lage als höchst unbefriedigend
und aussichtslos. Wer hierher verschlagen wird, sollte jegliche Hoffnung
fahren lassen. In endlosen Diskussionen spricht man nur von und für
sich, redet aneinander vorbei. Alle "leben in einer gewissen Erwartung,
dass sie jemand in eine interessante Zukunft abkommandiert" (W.A.
Passe). Wenn Thomas Mann einmal in anderem Zusammenhang von der "Negativität
der Kampfposition" schrieb, könnte er damit auch das Tschechowsche
Personal gemeint haben. Aktiv werden allenfalls die eher zwielichtig
angelegten Figuren, wie die Schwägerin Natalja, die sich das ohnehin
mit einer Hypothek belastete Anwesen der Schwestern unter den Nagel
reißt, oder der Zyniker Soljony, der den Nebenbuhler - und damit
die letzte Hoffnung Irinas - aus dem Weg räumt. Schließlich
zerplatzen am Ende die Illusionen wie die als bezeichnendes Gleichnis
ins Spiel gebrachten Luftballons.
Lübbe findet für all dies schöne darstellerische Entsprechungen,
verweigert sich einer unterkühlten, mit aufgepfropftem Gedankengut
versehenen Sicht (wie jüngst Thomas Bischoffs "Galotti"-Deutung),
bringt die unfreiwillige Komik des unentwegten Palaverns dezent über
die Rampe und berührt mit tief nachempfundenen Details (wenn z.B.
die von der Kündigung bedrohte Nanja ihren Kopf Schutz suchend
in Olgas Schoß birgt). Hier beeindrucken Muriel Wenger und Bettina
Schmidt mit hohem darstellerischem Format. Weil Lübbe die Personen
eben nicht karikiert, nimmt auch das Publikum sie ernst. Ein ausnahmslos
motiviert agierendes Ensemble verhalf dem Abend zu einem berechtigten
Erfolg.
Joachim
Weise, Blitz!, 15.02.2009
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