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Elfriede Jelinek
  "Rechnitz (Der Würgeengel)"
 
Premiere am 17. März 2012
   
    Regie: Enrico Lübbe
    Bühne: Hugo Gretler
    Kostüme: Michaela Barth


 


„Opfer sind sie ja immer alle, die drängen sich förmlich danach, das geht nicht, es können nicht alle Opfer sein, jemand muss auch Täter sein wollen, bitte melden Sie sich!“

 


In der Nacht vom 24. auf den 25. März 1945 wurden von den Gästen einer Abendgesellschaft auf dem Schloss der Gräfin Batthyány, geborene Thyssen-Bornemisza, in Rechnitz / Österreich mehr als 180 Deportierte getötet – ein Geschehen, über das noch heute der Mantel des Schweigens geworfen wird. In einer Stimmen- und Themencollage mit gedanklicher Schärfe und fesselnder Assoziationskraft umkreist Jelinek diesen Vorgang. Sie verbindet dabei die Themen, die ihr ganzes Werk bestimmen: das Verdrängen und Verharmlosen. Der Titelzusatz „Der Würgeengel“ verweist auf den gleichnamigen surrealistischen Spielfilm von Luis Bunuel. Weil er ebenfalls eine Abendgesellschaft zeigt, sieht Jelinek ihn assoziativ mit dem Geschehen in Rechnitz und der Atmosphäre ihres Stücks verbunden.

Text - Theater Chemnitz !!!

 
Die Premiere spielten:
Die Boten
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Ellen Hellwig
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Daniela Keckeis
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Hartmut Neuber
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Michael Pempelforth

 

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Sebastian Tessenow

     
 

KRITIK:

Vom Töten und Totschweigen
"Rechnitz (Der Würgeengel)" von Elfriede Jelinek ist ein beklemmendes Stück

Elfriede Jelineks "Rechnitz (Der Würgeengel)" erzählt keine Geschichte, aber es hat eine Vorgeschichte: Das Massaker an 180 jüdischen Deportierten durch die Gäste einer SS-Abendgesellschaft auf dem Schloss der Gräfin Batthyány im österreichischen Rechnitz, für das bis heute keiner zur Rechenschaft gezogen wurde, das nicht einmal genau rekonstruiert werden konnte - weil sich keiner daran erinnern will.
Angeregt unter anderem von einem Dokumentarfilm über Befragungen der Rechnitzer Bevölkerung zu den Vorgängen bei Kriegsende und dem Film "Der Würgeengel" von Luis Buñuel über eine eskalierende Dinnerparty, schichtete die österreichische Nobelpreisträgerin Texte zu einem gigantischen Konvolut, aus dem Schauspieldirektor Enrico Lübbe und Dramaturg Thorsten Buß für Chemnitz etwa ein Viertel auswählten. Es bleibt für die Botinnen und Boten darstellenden Ellen Hellwig, Daniela Keckeis, Hartmut Neuber, Michael Pempelforth und Sebastian Tessenow dennoch eine gewaltige Herausforderung, den anspruchsvoll-mehrdeutigen Texten über den Tod und das Töten Leben einzuhauchen, der sie jedoch weitgehend gerecht werden.
In wechselnden Kostümen (von Michaela Barth entworfen), die an verschiedene Teilnehmer des Abends - von der Gräfin bis zu ihrer Dienerschaft - erinnern, und in einer Kulisse mit Elementen eines bürgerlichen Jagdschlosses, samt Dusche, Waschbecken und Wandschränken, in denen sich mal edle Getränke, mal die Waffen verbergen, agieren die Boten und Botinnen bei Unterhaltungsmusik in einem "Haus, in dem Lust und Laster zu Hause sind". Wortreich verschweigen sie, woran sie sich nicht erinnern wollen. Von einem "Grab, das nicht gefunden werden will", denn "wer sich eine Grube gräbt, fällt selbst hinein".
Fressend, sich ineinander verkeilend, die Contenance verlierend, schließlich mit Gewehren knallend und endlich in die Schweiz flüchtend, beharren die Boten darauf "nur zu berichten", wobei man eine "kognitive Distanz zu dieser Zeit gewonnen" habe, die ohnehin "überproportional" präsent sei.
Die kluge Auswahl des Textes und die vom Regisseur vorgenommene Verküpfung mit den Figuren, verbunden mit mehr oder weniger sinnlosen Handlungen, hält die Inszenierung über weite Strecken spannend, gibt ihr eine Art Chronologie. Lediglich vor dem noch einmal furiosen Finale, bei dem dann alle Spuren des Gelages unter dem roten Teppich verschwinden, wird sie dann doch beinahe vom Text, vom langen Schweigen und einer drohenden Stille erdrückt.
Ein beklemmendes Stück, das einmal mehr den erinnerungsunwilligen "Zeitzeugen", der die Geschichte mit sich "abstimmt", sie sich zurechtinterpretiert, als den Feind des Historikers und der Wahrheit erscheinen lässt - sarkastisch, mit manchmal makabrem Humor; anstrengend, sehenswert. Selbst der Applaus war zwar lang und lobend, aber nicht überschwänglich. Das wäre dem Stoff auch nicht angemessen gewesen.

Matthias Zwarg , Freie Presse, 19.03.2012

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Lehrreiche Rülpser

180 Deportierte wurden am 24. März 1945 mit SS-Beteiligung offenbar als Partygag auf dem Schloss der Gräfin Batthyány im österreichischen Rechnitz getötet. Das Ganze hatte weiter keine Folgen, die adelige Gastgeberin züchtete später Pferde, erreichte satte 78 Lebensjahre und starb 1989 in der idyllischen Schweiz.

Elfriede Jelinek hat es zu "Rechnitz (Der Würgeengel)" getrieben, um ihren heiß geliebten Ösis das Verdrängen, Vertuschen, Verniedlichen bis zum Kotzen einzutrichtern. Enrico Lübbes Inszenierung am Sonnabend auf der Hinterbühne des Chemnitzer Schauspielhauses verhilft nun 67 Jahre später nachdrücklich auch dem deutschen und sonstigen Rest der Welt zu lehrreichen Rülpsern.

Irgendwie waren das auch Menschen, denen sei das Fleisch wie von den Knochen gefallen, die hätten ja auch nichts gegessen: Während eine alte Fregatte so entschuldigend vor sich hin schwadroniert, klatschen ununterbrochen Fressreste auf den Boden. Unvergesslicher Ekel für die Ohren und auch sonst angesichts einer Haxen-mit-Sauerkraut-schlingenden und herumsudelnden Bande von fünf "Boten" ganz dicht am Brechreiz. Aufräumen? Fehlanzeige. Das Begangene muss übergangen werden, heißt es. Eine Dusche beseitigt den gröbsten Dreck und der Rest kommt unter den Teppich.

Ellen Hellwig, Daniela Keckeis, Hartmut Neuber, Michael Pempelforth und Sebastian Tessenow als Boten, also Täter, Verdränger, Mitwisser, Munkler, hangeln sich beklemmend glaubwürdig in einer abgepolsterten Umkleide-Ballsaal-Salon-Kulisse (Bühne: Hugo Gretler) durch den Jelinek-Text.

Dann werden die Flinten herausgeholt und auf das da draußen geballert, dazu Volkslieder wie "Juja, Juja, gar lustig ist die Jägerei" und "Das Elternhaus". Und wenn man denkt, es ist vorbei, geht es von vorne los, überall: großes Theater, das einem auf den Magen schlägt.

Ch. Hamann-Pönisch, Morgenpost, 19.03.2012

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Elfriede Jelineks "Rechnitz" In Chemnitz
Faszinierendes Theater
Am 24. März 1945 wurden auf dem Gelände des Schlosses der Thyssen-Schwiegertocher Gräfin Batthyány im österreichischen Rechnitz über 180 entkräftete Juden umgebracht.

Das eiligst von hernach gleichfalls Ermordeten ausgehobene Massengrab blieb bis auf den heutigen Tag unentdeckt. Die österreichische Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek nahm sich dieses Ereignisses an, um auf das nach dem Krieg allmählich einsetzende Vertuschen und Verharmlosen solcher Gräueltaten zu verweisen und die Selbstgefälligkeit der Täter zu entlarven. Personen mit Namen und Adresse sucht man in dem umfangreichen Text vergebens. Dafür kommen Boten ins Spiel, Menschen, die Nachrichten überbringen, für deren Inhalt sie nicht verantwortlich sind. Oder haben gar die Täter die Gestalt der Boten angenommen? Wollen sie mit ihren Worthülsen, ihrem geschwätzigen Sprechen, die Geschichte zudecken, wie Monika Meister im Programmheft fragt?
Es ist das Verdienst Enrico Lübbes, dieses mehrfach ausgezeichnete Werk für Chemnitz - und damit die ostdeutschen Theater überhaupt - entdeckt zu haben. Freilich begegnete man der Fülle des Textes mit beträchtlichen Strichen, die jedoch nie den Kern der aktuellen Aussage antasten, den Aufruf gegen das "aktive Vergessen" (Robert Misik). Hugo Gretler, assistiert von den das Stück treffend bedienenden Kostümen Michaela Barths, entwarf einen herrschaftlichen Raum, dessen Wandschränke nicht nur Getränke, sondern im weiteren Verlauf die Schusswaffen der Mörder bergen. Wenn am Ende rote Teppiche über die Spuren des Geschehens gezogen werden, ergibt dies ein Bild von bestechender Symbolik. Lübbe inszeniert die Vorlage gleich einer Partitur, bringt, einschließlich der Zäsuren, alles auf den Punkt. Und indem der Schluss der Aufführung haargenau deren Beginn gleicht, schließt sich der Teufelskreis. Die in Abendgarderobe auftretenden Boten entblößen sich zunehmend ihres äußeren Scheins, und dies nicht nur in der bedacht widerwärtig angelegten Fressorgie, in deren Verlauf alle übereinander herfallen und letztlich derart erstarren, dass sich das Bild eines Leichenberges einstellt. Auch die Szene mit den Jagdgewehren verleiht dieser Demaskierung gespenstisch beklemmenden Ausdruck. Von den Darstellern wird alles gefordert und alles erbracht. Sei es die sich herrlich distinguiert gebende Ellen Hellwig, seien es der mit aasigem Lächeln einherstolzierende Hartmut Neuber oder der sonnyboyhafte Sebastian Tessenow, die wuselige Daniela Keckeis oder der prächtig indifferente Michael Pempelforth (und damit nenne ich nur einige herausragende Facetten ihres Spiels) - sie alle trugen das Ihre zu einem Abend faszinierenden zeitgenössischen Theaters bei.

Joachim Weise, Blitz!, 15.04.2012

 


 

 

 

 

 

  Erstellt am 07.10.2013