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Henrik Ibsen
  "Peer Gynt"
 
Premiere am 27. Januar 2011
     
 
Regie: Claudia Bauer
    Ausstattung: Patricia Talacko
    Musik: Tom Müller, René Szymanski
     
"Peer Gynt neigt zu prahlerischem Verhalten und unglaublichen Geschichten. Er könnte den verkommenen Hof retten, wenn er Ingrid heiraten würde, die Tochter des steinreichen Haegstadbauern, die ihm zugetan ist. Aber das versäumt er. Ingrid heiratet Mads Moën – und Peer entführt sie von ihrer eigenen Hochzeit. Allerdings lässt er nach nur einer Nacht wieder von ihr ab – denn er hat auf der Feier eine Frau getroffen, an die er ständig denken muss: Solveig.

Als Außenseiter und für vogelfrei erklärt, flieht Peer Gynt in die Einsamkeit und scheint mit Solveig, die ihm folgt, endlich Ruhe zu finden in seinem rastlosen Leben. Dann aber wird er von einem Troll an seine Vergangenheit erinnert, was ihn erneut zur Flucht treibt. Bevor er in die Welt geht, kehrt er noch einmal zu seiner Mutter Aase zurück und kommt gerade recht zu ihrer Todesstunde.

Peer Gynt zieht hinaus in die große Welt. Er bereist ferne Länder, er macht Karriere. Immer weiter, immer höher. Er will Kaiser werden, dann die Welt chronologisch durchlaufen, wird in einem Irrenhaus in Kairo zum Kaiser der Selbstsucht gekrönt und überlebt als alter Mann nur durch seinen brutalen Egoismus einen Schiffsuntergang. Dem Leben aber kommt er nicht näher. Am Ende seiner Reise ist sein Leben vorbei. Und er ist wieder zurück, zu Hause, verlassen und allein. Sein Leben war ein Traum. Sein Traum.

 

Gerd Enno Rieger schrieb in seiner Ibsen-Biographie: „Die Phantasie ist zum zweiten Ich Peer Gynts geworden, sie macht aber auch seinen besonderen Charme aus. Peer ist nicht nur ein Lügner, der vor der Wirklichkeit flieht, sondern auch ein Dichter, der sie zu gestalten weiß.“ Von diesem Punkt aus betrachtet wird Peer Gynts Odyssee durch die Welt zu einer zu hinterfragenden Geschichte. Ist ihm das alles wirklich passiert? Oder sind all die Wesen und Orte nur Kreationen seiner eigenen Phantasie? Und die ist so gut gestaltet, dass er nicht mehr zwischen Wirklichkeit und Lüge unterscheiden kann. Peer Gynt ist ein Nichts, ein Nerd, ein Sonderling, ein Außenseiter. In seinem Dorf machen sie alle einen großen Bogen um ihn, wenn er sie nicht mit seinen absonderlichen Geschichten unterhalten soll. Oder sie reizen ihn so lange, bis sie sich mit ihm prügeln können. Oder sie füllen ihn ab. Aber dann gehört er dazu, steht im Mittelpunkt, ist jemand, dann kann er alles sein – Trollprinz, Geschäftsmann, Prophet, Altertumsforscher, Kaiser. Was auch immer. All das ist Peer Gynt, wenn er der Wirklichkeit flieht. „Du bist Peer Gynt? Und wenn ja - wie viele?“ möchte man ihn fragen. „Sei du selbst!“ möchte man ihm raten.

Den Soundtrack zu Peer Gynts Suche nach dem eigenen Ich entwerfen und spielen live auf der Bühne René Szymanski und Tom Müller. Beide sind Mitglied der Chemnitzer Band RADAR, die schon „Die Tragödie des Macbeth“ am Schauspiel Chemnitz musikalisch begleitete.

Text - Theater Chemnitz !!!

 

 
Die Premiere spielten:
Peer Gynt
-
Bernhard Conrad
 
Aase, seine Mutter
-
Ellen Hellwig
 
Solveig, eine Fremde
-
Caroline Junghanns
 
Ingrid / Troll / Geschäftsmann / Anitra / Irre / Knopfgießer / Peer Gynt
-
Daniela Keckeis
 
Eine Frau / Die Grüne / Geschäftsmann / Jünger / Professor Begriffenfeldt / Knopfgießer / Peer Gynt
-
Susanne Stein
 
Mads Moen / Troll / Geschäftsmann / Jünger / Irrer / Koch / Knopfgießer / Peer Gynt
-
Nikolaus Barton
 
Der Bauer von Hängstadt / Trollkönig / Geschäftsmann / Jünger / Irrer / Knopfgießer / Peer Gynt
-
Tilo Krügel
 
Der Schmied Aslak / Troll / Geschäftsmann / Jünger / Irrer / Kapitän / Knopfgießer / Peer Gynt
-
Urs Rechn
 
Ein Junge / Ein hässlicher Junge
-
Valentin Unger**
 
Drei Mädchen / Drei Sennerinnen
-
Friederike Lenk **, Franziska Rattei**, Dina Rochlitzer**
 
     
** Mitglied des Theaterjugendclubs "KarateMilchTiger"
 

KRITIK:

Peer Gynt - Claudia Bauer begeistert in Chemnitz mit ihrer Ibsen-Radikalisierung
Ein Egoist zum Verlieben

Der Schreck dauert ein paar Minuten. Ein hagerer, klamaukig wirkender Mann in Hochwasserhosen kommt zögerlich von der Hinterbühne nach vorne. Betont wirr und unbeholfen spricht er von norwegischen Böcken und den Ausmaßen ihrer Hörner. Peer Gynt oder Piet Klocke, das ist hier die Frage. Gelächter kommt auf und wird noch stärker, als Peers Mutter Aase (Ellen Hellwig) den trotteligen Sohn aus dem Zuschauerraum einen Versager schimpft, sich in der ersten Reihe eine Zigarette schnorrt, und dann erst richtig loszetert.

Zu böse für den Himmel
Doch Claudia Bauer hat alles andere vor, als Ibsens Drama mit Ironie zum Schenkelklopfer zu machen. In den reichlich zwei Stunden, ohne Pause und wie aus einem Guss, schafft sie es, Peer Gynt vom lächerlichen Pappkameraden zu einem leidenschaftlichen und, ja, auch rücksichtslosen Selbstverwirklicher zu machen. Einen, den man mag, weil er keine Kompromisse macht. Der seinen Träumen nachjagt, sich dabei wahlweise der Lächerlichkeit preisgibt oder über Leichen geht. Ein Egoist zum Verlieben.
Schuld daran ist vor allem Bernhard Conrad, der als Protagonist eine nahezu ungeheure Präsenz entwickelt. Er allein ist die Inszenierung. Rastlos wie der Duracell-Hase denkt er, spricht er, reist er, handelt er. Sein Peer ist kein Spinner, sondern einer von uns. Nur dass er eben nicht einlenkt, wenn wir alle es tun würden. Er lässt sich nicht vereinnahmen. Er lebt seine Phantasien aus, träumt seine Probleme weg, erinnert sie weg, flieht vor ihnen in neue Träume, die doch alle in demselben münden: Dieser Mann, kein großer Sünder, aber zu böse für den Himmel, wie es bei Ibsen heißt, will ganz er selbst sein. Wer wollte das nicht.

Ibsen 21 mit Stahlhelmen und Unterhosen
Er zieht aus, das Glück zu finden, halb Faust, halb Mephisto: mal forschend, mal bauernschlau, mal lüstern, immer Egoist und selbst in seinen Missetaten nicht nachhaltig verachtenswert. Ebenso bemerkenswert ist, wie es der Regie gelingt, trotz der relativ deftigen Bildsprache - die Trolle tragen Stahlhelme, die Geschäftsmänner nur Unterhosen - alle Aktualisierungen beiläufig daherkommen zu lassen. Dass aus dem Weg-Erinnern von Problemen (N)ostalgie werden kann, aus Religion Hörigkeit, aus Theorien Ideologien, aus Profitgier Verbrechen und so weiter, das alles stellt Claudia Bauer nicht als Botschaft aus. Und doch kann man es fühlen. Dass Peer ein Ästhetiker im Sinne Kierkegaards ist, dem es an Ernst dem Leben gegenüber mangelt, Bauer wirft es ihm nicht vor, sondern kontert es mit Humor, mit der Leichtigkeit des 21. Jahrhunderts - Ibsen 21, könnte man sagen.
Wenn er sich von den Trollen bekoten lässt, kommt das nicht als Ekel-Trash rüber, sondern als launige Pointe: Ein kleiner Anschiss richtet schließlich keinen bleibenden Schaden an. (Ist es das, warum der Abend erst "ab 16" freigegeben ist? Ach Herrje!) Selbst Howard Carpendales nun wirklich echt klebriger Schlager "Hello again", bei dem Peer Gynt anfangs seine Solveig kennen lernt und am Ende eben wiedertrifft (Hello again!), ragt nicht als opportunistischer Generationen-Gag heraus, sondern passt einfach.

Ein Aufschrei gegen das Mittelmaß
Komik und Tragik gehen aufs Gelungenste ineinander über, wohl dosiertes Aus-der-Rolle-Fallen macht "die vierte Wand" angenehm durchlässig. Ein "Peer Gynt", der maßvoll einsetzt, was das Theater heute zu bieten hat: einen auf der Bühne live eingespielten Soundtrack, eine offene Garderobe auf der Hinterbühne, ein paar Kulissenschmierereien und -zerstörungen sowie ein halbes Kilo zerlegter Zwiebeln. Die allerdings sind ironisch gemeint, denn ein Mensch aus lauter Schichten ohne Kern ist Peer Gynt wahrlich nicht.
Er ist einer, der am Ende bemerkt, wie skrupellos er agierte, und doch nicht anders kann, als weiter zu träumen. Von seinem Nachruhm, den Legenden, die sich um ihn ranken werden und davon, dass es besser ist zu scheitern als sich anzupassen. Noch einmal hebt er zu Schwärmen an: über den Schlussapplaus hinaus schickt Peer Gynt seine Botschaft ins Parkett. "Alles oder nichts! Love it or hate it!" Ein Aufschrei gegen das Mittelmaß, ein personifiziertes kierkegaardsches "Entweder-Oder". Wenn's nur so einfach wäre!
Solveig, die bei Ibsen all die Jahre in Glaube, Liebe und Hoffnung auf ihn wartete, hat ihn offenbar verstanden. Natürlich verzeihe sie ihm und gewartet habe sie auch, sagt sie am Ende werkgemäß. Dann stellt sie Peer ihre neue Familie vor: ihre Männer und Kinder. Großer Premierenjubel!

von Matthias Schmidt http://www.nachtkritik.de

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Rastloser Spinner
Der "Peer Gynt" in Chemnitz ist vor allem eins: eine grandiose One-Man-Show von Bernhard Conrad.

Würziger Zwiebelgeruch durchdringt die Luft im Zuschauerraum. Die Insassen eines Irrenhauses in Kairo suchen in ihrer Therapie den Kern, die Mitte, das Wesentliche der Knolle. Sie lösen Schicht für Schicht ab, zerfetzen regelrecht ihre Exemplare und - kein Kern, nichts. So muss man sich das vorstellen, was "Peer Gynt" umtreibt, und zwar nicht nur, als er in der ägyptischen Anstalt landet. Sein Leben lang ist er auf exzessiver Suche.
Henrik Ibsens 1876 uraufgeführtes Stück, das am Donnerstagabend im Chemnitzer Schauspielhaus Premiere hatte, ist zunächst einmal eins: eine One-Man-Show von Bernhard Conrad. Das ist gleich in den ersten Augenblicken klar. Dieser gern als nordischer Faust bezeichnete Typ ist ja, das weiß man, nicht eben ein Held. Doch er ist noch nicht mal ein Antiheld, wie er da so schmalbrüstig, schlaksig und in unsäglichen Hochwasserhosen von seinem Ritt durch die Lüfte palavert, als hätte Piet Klocke Pate gestanden, fahrig und sich in seinen Fantasien selbst einholend. Der spinnt und lügt halt, sagen alle anderen im Dorf, selbst seine Mutter (wunderbar Ellen Hellwig). Sein irrer Blick spricht Bände, nämlich dass er schon immer wieder woanders ist, wenn er gerade erst anzukommen versucht. Conrad steht den ganzen Abend unter Strom, entwickelt eine unglaubliche Bühnenpräsenz und zieht wie ein Magnet (fast) alle Aufmerksamkeit allein an sich. Ständig in Bewegung, spiegelt sein elektrisierter Körper Peer Gynts flirrenden Geist, der Neuem, Erfolg und Sinn auf der ganzen Welt hinterherjagt. Kaiser will er werden, doch so verrückt und unreal, wie das klingt, so unweigerlich denkt man mit, was als moderner, rücksichtsloser Selbstfindungstrip allgegenwärtig ist.
Regisseurin Claudia Bauer, die in Chemnitz bereits Lessings "Miss Sara Sampson" inszenierte, lässt die Geschichte in einem Rutsch durchspielen, aktualisiert, aber nicht vordergründig, findet manchmal deftige Bilder, grundiert von den Mythen der nordischen Sagenwelt, die aus der dunklen Hinterbühne in das menschliche Geschehen eindringen und auch die Grenzen zwischen den Welten verwischen. Tom Müller und Rene Szymanski von der Chemnitzer Band Radar schicken dazu düstere sphärische Klänge in den Raum, die die Geheimnisse der norwegischen Bergwelt assoziieren, sich aber ganz dem Spiel unterordnen. In den reichlich zwei Stunden, die nicht ohne Witz sind, ereilt diesen Hansdampf in allen Gassen, der eigentlich nichts auf die Reihe kriegt und überall als Gescheiterter wieder die Flucht ergreift, weder Läuterung noch Erkenntnis. Dieser Spinner schwadroniert noch immer, da holen sich die anderen Darsteller längst ihren verdienten Schlussapplaus ab. Nein, dieser Typ hat gar keine Zeit, sich zu verbeugen, er redet und schreit sich seine Hirngespinste aus der Seele. Er kann nicht anders. Sein Akku ist noch lange nicht leer.
Mag man ihn? Man kennt und versteht ihn, weil man die Welt kennt, die solche Peers - bei Claudia Bauer zuweilen gleich mehrfach auf der Bühne - produziert. Und Solveig (als unaufgeregter, in sich ruhender Gegenpol Caroline Junghanns), die ewig auf ihn gewartet hat, versteht ihn auch. Trotzdem präsentiert sie dem rastlosen Sonderling mit ihrer Familie die vermeintliche Alternative. Doch hier wird Peer Gynt sein "Ich" auch nicht finden.
Begeisterter Applaus.

Uta Trinks, Freie Presse, 29.01.2011

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Im Chemnitzer Schauspiel kentert ,Peer Gynt'
Ochse, Buchse, Arschgesicht

Ein nettes kleines Gehörn vor der Stirn, dazu ein zartes "Mäh, Mama, mäh" - so wird ein Bock zur Ziege gemacht, und aus dem spinnerten, egoistischen Titelheld im Drama "Peer Gynt" des Norwegers Henrik Ibsen eine irre Jammergestalt: mit viel zu kurzen Hosenbeinen und der wohl scheußlichsten Unterhose der Theaterwelt.
Verärgert mochte man nach dieser P16-lnszenierung von Claudia Bauer am Donnerstagabend im Schauspielhaus sämtliche Unterhosen und Norwegerpullover dieser Welt in die nächstbeste Kleidersammlung geben. Die schlabbrigen Unterleibsbuchsen, in die zudem das Ensemble gestopft wurde, würden da möglicherweise gar nicht angenommen. "Mittelmaß" brüllt es - hier wird gnadenlos menschlicher Durchschnitt auf das unschuldige Feinripp reduziert. Drumherum hat man unnützes Zeugs gebastelt wie Zäunchen, Bierschildchen, Gardinchen, Hängegeweih (schäbige Bühne, dusslige Klamotten: Patricia Tlacko). Dauerdudelnd erklingt der Carpendale-Hit "Hallo again". Zwei Mann auf so was wie einer Gartenlaubenveranda hauen - warum auch immer - bisschen auf Trommel und Pauke. Dann darf heftig herumgesudelt, -gespeckert und -gesaut werden. "Du bist ein grober Ochse", bekommt Peer Gynt zu hören. Der lässt sich nicht lumpen: "Der Kaiser spricht: Du Arschgesicht." Was für ein imposantes Textgebilde. Berechtigt kommt man wieder an dem Körperteil an, wo einem die laute, langatmige, langweilige, letztlich lächerliche Inszenierung nun wirklich vorbeigeht.
Da reitet bei Ibsen einer "durch die Luft", jagt seinen Visionen und Illusionen nach, verliert den Boden unter den Füßen - was für ein Thema für das Jahr 2011. Was für eine Chance, das in Chemnitz mit dem Schauspieler Bernhard Conrad auf die Bühne zu bringen! Stattdessen albernes Beischlafgehoppel, "Schinkenklopfen" auf nackte Hintern, Farbengepansche, Publikumangequatsche. "Auf das Ende kommt es an", wird Peer Gynt klugscheißernd in die Runde schleudern. Und vor allem auf eine saubere Unterhose, ergänzen wir leise und flüchten nach reichlich zwei Stunden erleichtert zu unserem heimischen Wäscheschrank.

Ch. Hamann-Pönisch, Chemnitzer Morgenpost, 29.01.2011

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Ein Egoist zum Verlieben
"Peer Gynt" am Chemnitzer Theater ist leidenschaftlich und ohne Kompromisse.

Er hörte einfach nicht auf. Der Schlussapplaus toste bereits minutenlang, das Ensemble ließ sich von einem begeisterten Chemnitzer Publikum feiern, doch Peer Gynt schrie immer weiter: "Alles oder nichts!", "Love it or hate it!" Das grandiose Ende einer grandiosen Inszenierung!

In deren Mitte steht Bernhard Conrad als Peer Gynt, und er allein war den Abend wert. Seine Präsenz inmitten eines ebenfalls groß aufspielenden Teams ist nahezu ungeheuerlich. Mit der Unermüdlichkeit eines Duracell-Hasen denkt er, spricht er, reist er, handelt er. Aus Ibsens spätromantischem Träumer macht er einen rastlosen Selbstverwirklicher, dem man sogar verzeiht, dass er über Leichen geht.

Zu Beginn war Peer Gynt ein hagerer Mann in Hochwasserhosen, der von norwegischen Böcken faselt. Kurzzeitig hatte man den Eindruck, das werde eine dieser ironischen Nummern, die den Autor und sein Werk aus dem Heute dekonstruieren. Regisseurin Claudia Bauer gelingt das Gegenteil. In reichlich zwei Stunden, ohne Pause und wie aus einem Guss, macht sie Peer Gynt vom lächerlichen Pappkameraden zum leidenschaftlichen und rücksichtslosen Jetzt-Menschen. Einer, den man mag, weil er keine Kompromisse macht. Der seinen Träumen nachjagt, sich dabei der Lächerlichkeit preisgibt, sich erniedrigen lässt oder andere erniedrigt. Ausgezogen, sein Glück zu finden, ist er halb Faust, halb Mephisto: forschend, bauernschlau, lüstern. Ein Egoist zum Verlieben!

Freigegeben ab 16

Trotz deftiger Bildsprache - die Trolle tragen Stahlhelme, die Geschäftsmänner Unterhosen - kommen die Aktualisierungen beiläufig daher. Dass aus dem Weg-Erinnern von Problemen (N)ostalgie werden kann, aus Religion Hörigkeit, aus Theorien Ideologien, aus Profitgier Verbrechen, das alles stellt Claudia Bauer nicht als Botschaft aus. Und doch kann man es fühlen. Ibsen21.

Komik und Tragik gehen ineinander über, wohl dosiertes Aus-der-Rolle-Fallen macht die vierte Wand angenehm durchlässig. Ein "Peer Gynt", der maßvoll einsetzt, was das Theater heute zu bieten hat: einen auf der Bühne live eingespielten Soundtrack, eine offene Garderobe auf der Hinterbühne, ein paar Kulissenschmierereien und ein bisschen Fäkal-Spielerei. Wohl deshalb hatte das Theater die Inszenierung erst "Ab 16" freigegeben. Ein PR-Gag, angesichts dieser Inszenierung so überflüssig wie verzeihlich.

Matthias Schmidt, Sächsische Zeitung, 01.02.2011

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WAHNSINNIG Ehrgeizig
Claudia Bauer schickt "Peer Gynt" in die Theaterwelt

Sie kann es nicht mehr hören: Dieses Gefasel von Prachtböcken und Heldentaten. Zupacken soll er endlich und den Hof retten, fordert Ellen Hellwig und zündet sich eine geschnorrte Zigarette an. Dann legt sie die Seele der Mutter frei. Irgendwo zwischen Schuldgefühlen und Verzweiflung, tiefer Liebe und mächtigem Zorn ist da noch ein Hoffen auf den Sohn. Aber der wird sich nicht einlassen auf ein durchschnittliches Leben. Auch wenn er es versucht und ein begütertes Mädchen entführt, mit dem die Zukunft sicher wäre. Er wird sie verlassen - für Solveig, eine geheimnisvolle Fremde. Und schon sind wir mitten in der Geschichte von Peer Gynt. Auf einer Bühne, die keinen festen Boden unter den Füßen bietet. In einer Inszenierung, die Theater zelebriert, auch wenn es mit abgedroschnen Mitteln spielt und irgendwie nach 80er Jahre riecht. In einer Conradiade - sozusagen. Denn Bernhard Conrad bestimmt das ganz Ausmaß der Idee. All seine Monologe atmen den Wahnsinn der Welt ein und spucken die Tiefen der menschlichen Seele aus. Sprechend entfuhrt er in die Phantasie und spielend verlässt er die Gesellschaft. Er flieht vor der Realität: direkt in die Theaterwelt. Dorthin, wo alles möglich ist. Wo auf Wunsch das Licht angeht, wo Musiker auf ihren Einsatz warten, wo Pappwände mal schnell zersägt sind, wo sich Akteure in immer neue Kostüme stürzen, wo Mikros rumstehen für ein paar wichtige Textfetzen, wo Bühnenarbeiter überflüssige Requisiten wegräumen, wo Howard Carpendale "Hello Again" singt und das noch nicht mal kitschig klingt. Genau dort steht nun dieser Mann wie ein Idiot - mit Hochwasserhosen, zuweilen auch Nerdbrille. Und er fesselt. So lächerlich, wie er daher kommt, so selbstsüchtig ist er. Ein leidenschaftlicher Exzentriker von gefährlichem Format, der nur er selbst sein möchte, Kaiser irgendwann. Also macht er sich auf den Weg, und Regisseurin Claudia Bauer nimmt die Stationen seiner Reise nicht realistisch an. Sie macht sie zu Schauplätzen seines kreativen Geistes, sein Tun zum poetischen Widerstreit mit fremden Erwartungen und Werten. Mehr noch: Sie macht Peer Gynt zur multiplen Persönlichkeit, unberechenbar und doch liebenswert. Das schafft freilich Spielräume von irrer Dimension. Nirgends ist Normalität, alles ist zu heftig, zu hässlich, zu schrill und damit leicht und humorvoll, leidenschaftlich und pur. Etwa wenn sich Bernhard Conrad, Susanne Stein, Tilo Krügel, Daniela Keckeis und Urs Rechn - jeder ein Alter Ego von Peer Gynt und nun Insasse eines Kairoer Irrenhauses - über Zwiebeln hermachen, sie Schicht um Schicht auseinandernehmen auf der Suche nach dem Kern. Nichts. Nur beißender Geruch, der Tränen in die Augen treibt. Gleichsam aber auch das nächste Level auf dem radikalen Selbstfindungstrip Peer Gynts: Alles oder nichts wird er noch nach dem Schlussapplaus rufen. Klingt das nun wahnsinnig oder ehrgeizig?

Jenny Zichner, Stadtstreicher Chemnitz, 03.2011

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  Erstellt am 20.06.2015