"Jeanne, die sich
hat die Jungfrau nennen lassen, die Lügenhafte, Bösartige, die Volksbetrügerin,
Wahrsagerin, die Abergläubische, die Gotteslästerliche, Anmaßende, Irrgläubige,
Prahlerische, die Götzendienerin, die Grausame, Liederliche, alle Teufel
Anrufende, Abtrünnige, die Schismatikerin, die Ketzerin" - das waren
die Anklagepunkte, für die Jeanne d'Arc am 30. Mai 1431 auf dem Marktplatz
von Rouen öffentlich verbrannt wurde. Fünfundzwanzig Jahre später findet
ein zweiter Prozess statt, in dessen Ergebnis Jeanne rehabilitiert wird.
Fast fünfhundert Jahre später, im Jahre 1920, wird sie heiliggesprochen.
Drei Jahre später schreibt der Ire Bernard Shaw seine Dramatische Chronik,
"Die heilige Johanna", die er in der Gegenwart (Auftritt eines Herrn
aus dem Jahre 1920) enden lässt. Auch wir blicken aus unserer heutigen
Sicht auf das Stück, und es stellen sich Fragen: die Aufhebung der Belagerung
von Orleans und die Kaiserkrönung Charles des VII. in Reims, das war
die Mission mit der Johanna, bestärkt von ihren Stimmen, angetreten
war. Doch sie macht weiter, ohne Rücksicht auf Verluste. Paris ist das
nächste Ziel. "Du bist in den Krieg verliebt", heißt es bei Shaw. Oder
Johannas Nationalitätsgedanke: "Ihr werdet den Tag erleben, an
dem es keinen englischen Soldaten mehr auf französischem Boden gibt."
Ein spannender Prozess. Ein spannendes Stück Geschichte auf dem Theater.
|
KRITIK:
Jung, maßlos,
unbequem
Premiere für "Die heilige Johanna" von Bernard Shaw
im Schauspielhaus Chemnitz
Chemnitz. Dieser Königsanwärter ist eine Schande für
sein Volk. Pleite ist er, hängt am liebsten rum, haut sich ins
Bett statt die Feinde aus seinem Land zu vertreiben. Seine Hofschranzen
stehen ihm in nichts nach, nur dass sie wenigsten noch Haltung bewahren
und der äußeren Form genügen, während Karl sich
in seinen abgetragenen Klamotten am wohlsten fühlt. Und in diese
schäbige Runde tritt plötzlich ein junges Mädchen mit
einer Vision: Frankreich will es retten, indem es die englischen Eroberer
vertreibt und den Dauphin zum König krönt. "Die heilige
Johanna", die zu diesem Zeitpunkt noch schlicht das Mädchen
heißt und 1920 heilig gesprochen wurde, mischt die lethargische
Gesellschaft auf, bringt sie auf Trab und wird, als ihre Dienste nicht
mehr gebraucht werden und sie beginnt unbequem zu werden, aus dem Weg
geräumt.
Bernard Shaws dramatische Chronik, die am Samstag im Chemnitzer Schauspielhaus
ihre Premiere hatte, ist ein Stück über den erstaunlichen
Aufstieg des Bauernmädchens zur Lichtgestalt und dessen jähes
Ende als Hexe auf dem Scheiterhaufen. Gleichzeitig aber richtet Shaw
die Scheinwerfer auf die Machenschaften von Staat und Kirche, die die
Visionen der Jeanne d'Arc zu nutzen wissen - solange sie in ihren Kram
passen.
Leider bekommt in der Inszenierung fast ausschließlich der Kopf
zu tun, das Herz bleibt merkwürdig ungerührt. Es ist ein etwas
spröder Abend, dessen Dramatik sich vor allem in den Dialogen entwickelt,
und das macht es - zumal in der vordergründig rationalen Regie
von Manuel Soubeyrand - schwer, einen emotionalen Zugang zu der Geschichte
zu finden. Das Publikum sitzt vor und auf der Bühne, die Darsteller
agieren mittendrin, was anfangs zwar als reizvolle Konstellation erscheint,
sich aber nicht immer als vorteilhaft erweist. So leidet die Verständlichkeit,
wenn der Text zur jeweils anderen Zuschauerseite hin gesprochen wird,
und auch der Spielraum der Mimen wirkt eingeschränkt.
Man erfährt überhaupt wenig von den meisten Figuren, Stand
und politisches Kalkül allenfalls und der Hang, sich aus Verantwortung
und Schuld herauszumogeln. Ausgenommen der behäbig-selbstzufriedene
Dauphin und spätere König Karl VII. von Frankreich, er kommt
bei Anne Else Paetzold so richtig lebendig auf die Bühne. Sie hat
darstellerisch treffliche Momente, etwa wenn sie den viel zu großen
Krönungsmantel (die Ausstattung von Susanne Uhl lässt mehrere
zeitliche Deutungen zu) rafft oder vor Angst an den Fingernägeln
knabbert.
Gritt Galisch als Johanna zeigt zunächst wunderbar, wie das naive
und gleichzeitig vor Tatendrang fast berstende Mädchen sich ihren
Weg bahnt. Sie selbst ist wie ein Überraschungsangriff auf ein
erstarrtes System - trippelnd, ständig hüpfend, als wolle
sie sich nie dauerhaft auf dem Boden dieser Welt niederlassen. Doch
eben das auch wird der Heldin zum Verhängnis, denn sie hat nur
ihre "Stimmen", die im Grunde auch nichts anderes sagen, als
einem der gesunde Menschenverstand eingeben kann, und doch ist es eben
nicht dieser, der die Welt regiert. Gegen das reale Macht-Dickicht,
in dem selbst die Erzfeinde England und Frankreich zusammenwirken, ist
sie hilflos. Gritt Galisch bringt das Ungeheuerliche, das diese Johanna
bewirkt und ihrer Umwelt zugleich zumutet in ihrer Maßlosigkeit,
in einem expressiven Körperspiel zum Ausdruck, das insgesamt jedoch
zu wenige Schattierungen aufweist.
Uta
Trinks, Freie Presse, 7.4.2002
___________________________________________________
Und es gibt sie
doch
Dass der Krieg kein Geschäft für Männer ist, scheint
Manuel Soubeyrand seinem Publikum vor Augen führen zu wollen. Wie
die historische Jeanne d'Arc Frankreich von der Belagerung der Engländer
befreit, ist eine wohl allgemein bekannte Geschichte. In Chemnitz siegt
diese Frau an der Spitze eines Heeres jedoch nicht nur über Männer,
sonder auch über ihresgleichen. Soubeyrand lässt die Gegner
des nationalen Konflikts, den schwachen französischen Dauphin und
den kühl-strategischen Engländer Warwick, von Schauspielerinnen
spielen. Frauen an die Macht? Nicht wirklich. Denn humanere Regierungsformen
finden sich in keiner der gezeigten Herrschaftsweisen, und selbst die
Heilige kann hier nicht als Leitbild herhalten. Dennoch, sie ist die
einzig Aufrichtige im Sumpf der Realpolitik. Wenn sie gleich zu Beginn
bei einem französischen Edelmann und dessen Verwalter um Geleit
und Empfehlung für die Reise zum Dauphin bittet, offenbaren sich
diese Unterschiede der inneren Haltung in der Physis. Während man
sich am Hof nur noch auf allen Vieren kriechend fortbewegt, steht Johanna
aufrecht: Ihr ganzer Körper unter Spannung, Kopf und Schultern
nach vom geneigt, die Arme angewinkelt, als stemme sie sich mit aller
Kraft gegen einen Widerstand. Die Beine fest auf dem Boden, mit den
Füßen auf Schulterbreite stehend, wirkt ihr Körper eher
wie der eines Mannes. Die Körper der Männer dagegen wie die
von Schlangen, in Bodenlöchern abtauchend und wieder hervorkriechend.
Auch in Johannas Kleidung, die sie später am Hofe gegen eine "
Rüstung" eintauschen wird, spiegelt sich Kampfeslust. Ein
Amazonenkostüm hat sie sich zu Hause gebastelt. Das Shirt bedeckt
nur eine Brust, darunter ein Hemdchen, Lederhosen, Stiefel, die Oberarme
mit schwarzen und roten Ringen geschmückt. Überhaupt scheint
Griff Galisch als Johanna die einzige zu sein, deren Wesen noch getrieben
ist, deren Handlungen die anderen treiben. Kein Moment, in dem sie ruht,
wie in einem Käfig gefangen läuft sie ständig auf und
ab. Wenn sie erzählt, bebt der ganze Oberkörper, gestikulieren
die Arme wie wild. Da ist was in diesem Mädchen, das brodelt und
sich Bahn zu brechen versucht, während um sie herum die träge
Zone der Ernüchterung alles erlahmen lässt. Diese Unbedingtheit,
diese mitreißende Kraft ist es auch, welche später Dauphin
und Erzbischof überzeugen wird, selbst wenn sie Johannas Beweggründe
nicht teilen. Frankreich und Gott sind für die da oben nur Mittel
zur Ideologie, ihr Fortbestehen nicht nationales oder seelisches Anliegen,
sondern pure Machtsicherung. Johannas Verve wird gebraucht, wo sich
diese Begriffe massenwirksam einsetzen lassen, ihr Glauben wandelt sich
in den Köpfen der anderen zu Propaganda. Wunder inszeniert man,
sagt der Erzbischof von Reims; dass sie nicht ohne seine Interpretationshilfe
geschehen, weiß er sehr wohl. Und so ist Gritt Galischs Johanna
folgerichtig nicht die Beseelte, sondern die Besessene. Eine Frau, deren
Wahn man für die Mobilisierung des Mobs gebrauchen kann, zur Stärkung
der kampfesmüden Gemüter. Gott selbst wohnt in Johanna genauso
wenig wie in der Kirche oder im Erzbischof. Für die Fürsten
dagegen gilt es, den Lebensstandard zu verteidigen. Ihr Verhalten verrät
die Dekadenz und Degeneriertheit einer satten, verweichlichten und schwachen
Schicht. Sie stürzen zwischen Infantilität, Trotz, Senilität
und Exaltiertheit hin und her, als gäbe es keine Zwischentöne
auf dieser Skala des abnormal Asozialen. Die Kostüme von Susanne
Uhl unterstreichen diese Lesart. Uhl kleidet die Figuren in eine bühnenüberhöhte
Ästhetik der dekadenten 8oer Jahre: rot und schwarz die Farben,
viel Gummi, Leder, Lack und Kajal, Krawatten, bodenlange Mäntel,
Tüllröckchen über Hosen, Gewänder halb Jackett und
halb Mantel, alles asymmetrisch und in mehreren Lagen getragen - ein
Mix der exzentrischen und verkleidenden Mode der verschiedenen 8oer-Jahre-Musikstile.
Wie Panzer, die die zartbesaiteten Egos beschützen, wirken diese
Kostüme neben der körperbetonten, verletzbar machenden Kleidung
Johannas. Mit ihren bauch und armfreien Shirts, den hüfthohen Lederhosen
und den roten Bändern, die in ihr kurzes Haar geflochten sind,
sieht Gritt Galisch aus wie ein erfrischend direktes und agiles Kind
der 90ger ein Girlie irgendwo zwischen Heike Makatsch und Tank-Gin.
Wo jene allerdings Witz, Schlagfertigkeit und Frauenpower ins Felde
führten, sitzt bei Johanna die Eingebung, die ihr eher die Rechtschaffenheit
einer Musterschülerin verleiht. Das Kämpferische paart sie
mit der Ehrlichkeit, Fanatismus ersetzt Cleverness. Sie sei verliebt
in die Religion und den Krieg, wird ihr vorgeworfen, und dies trifft
den Kern. Ob ihr Handeln wirklich gottgeführt ist, gibt diese Johanna
nie preis. Sie ist Spielball der Politik. Erfrischender Gegenpol in
einer durch und durch kranken und verkrüppelten Welt, so dass man
ihr Wahn und Fanatismus auch verzeihen möchte. Hauptsache, es lebt
noch in einem drin. Die Ruhe, die Beseeltheit, die man dieser Figur
gern von Anfang an unterstellen möchte, findet Johanna erst nach
ihrem Tod. 25 Jahre später und durch die heilige Kirche rehabilitiert,
erscheint sie mit anderen Geistern ihrer Zeit am Krankenbett des durch
sie zum König Aufgestiegenen. Im langen roten Kleid und mit langen
Haaren scheint sie endlich ihren Frieden gefunden zu haben. Kein Rennen
mehr, kein Flehen, Agitieren oder Gestikulieren. Sie hat nun wirklich
zu Gott oder ähnlichem gefunden, und dass die Welt ihr verzeiht,
sie aber dennoch nicht zurückholen will, nimmt sie nunmehr gelassen.
Alles weltliche Streben ist vergebens. Die vermeintliche Erleuchtung
hat sie in den Tod getrieben, die wahre Erleuchtung war ihr Gewinn.
Anja
Dürrschmidt , Theater der Zeit, 5/2002
___________________________________________________
|