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Tennessee Williams
  "Endstation Sehnsucht"
 
Premiere am 03. Oktober 2008
   
    Regie: Enrico Lübbe
    Bühne: Hugo Gretler
    Kostüme: Sabine Blickenstorfer


 

Nach Jahren besucht Blanche DuBois, Südstaatenlady und Literaturlehrerin, ihre Schwester Stella in New Orleans. In Stellas Mann, dem robusten Fabrikarbeiter Stanley Kowalski, erkennt Blanche ihren großen Widersacher. Aber gleichzeitig ist sie von ihm fasziniert. Es beginnt ein Spiel aus Ablehnung und Anziehung, in dessen Verlauf mehr und mehr an Blanches Leben nicht so zu sein scheint, wie sie es darstellt - nicht die Vergangenheit und nicht die Gegenwart.....

Mit Tennessee Williams' atmosphärischem Drama um verdrängte Wünsche und große Sehnsüchte stellt sich der neue Schauspieldirektor Enrico Lübbe dem Chemnitzer Publikum vor.

Text - Theater Chemnitz !!!

 
Die Premiere spielten:
Blanche DuBois
-
Susanne Stein
Stella Kowalski
-
Julia Berke
Stanley Kowalski
-
Urs Rechn
Harold Mitchell (Mitch)
-
Wenzel Banneyer

Eunice Hubble

-

Annett Sawallisch

Steve Hubble

-

Dirk Lange

Pablo Gonzales

-

Edgar Eckert*

Ein Arzt

-

Bernd-Michael Baier

Eine Krankenschwester

-

Franziska Wulf*

Ein junger Kassierer

-

Jannik Nowak*

 

 

* Studenten der Hochschule für Musik und Theater "Felix Mendelssohn Bartholdy" Leipzig am Studio Chemnitz

     
     
 

KRITIK:

Sehnsucht zwischen Antrieb und Zerstörung

Viel Beifall zum Auftakt: Neues Chemnitzer Schauspielensemble stellt sich mit zwei Klassikern und einer Uraufführung vor

"Endstation Sehnsucht" prangt in großen roten Buchstaben am Chemnitzer Schauspielhaus - nicht nur Name der Eröffnungsinszenierung für das weitgehend neue Ensemble unter seinem neuen Chef Enrico Lübbe, sondern Motto für die mit zwei Premieren und einer Uraufführung eingeläutete Spielzeit insgesamt. Und wie das Startwochenende zeigt, wird auf der Bühne verhandelt, was die Menschen zwischen Traum und Realität antreibt.

Chemnitz. Das war ein Beifall wie lange nicht für eine Aufführung in diesem Saal. Als Enrico Lübbes Inszenierung "Endstation Sehnsucht" am Freitagabend zu Ende ging, brach aus den Zuschauern eine Begeisterung heraus, die auch wie Erleichterung wirkte. Nach wochenlangen heftigen öffentlichen Diskussionen über die Neubesetzung des Ensembles im Chemnitzer Schauspielhaus war zur Premiere von Tennessee Williams modernem Klassiker spürbar, hier hat sich eine tolle Mimen-Truppe zusammengefunden. Der neue Chef überreichte denn auch jedem der Bühnenakteure dieses Startwochenendes eine weiße Rose. Eine schöne Geste.

Spannend selbst in der Stille

In New Orleans sucht die geschasste Lehrerin Blanche bei ihrer Schwester Stella und deren Mann Unterschlupf. Brütend heiß ist die Atmosphäre. Um das zu zeigen, braucht es nur eine Melone, die am Rande verzehrt wird. Ansonsten führt Lübbe die Zuschauer in eine karge Zweizimmerwohnung, deren weiße Wände (Bühne Hugo Gretler) zur Projektionsfläche für das Aufbrechen menschlicher Konflikte werden. Denn Blanches Auftauchen bringt die von Begehren und Anspruchslosigkeit geprägte Zweisamkeit des Paares ins Wanken. Doch auch Stellas Mann Stanley hat schnell die anmaßende Scheinwelt von Blanche durchschaut, die die Südstaatenlady den einfachen Verhältnissen des Handlungsreisenden überstülpen will.
Inszenatorische Effekthascherei, das ist Lübbes Sache nicht. Vielmehr nimmt er sich Zeit, bleibt konzentriert an den Figuren dran. Und die Momente, da auf der Bühne vermeintlich nichts passiert, sind am Ende die spannendsten des Abends. Ganze Kämpfe finden allein in Blickkontakten statt - lauernd zwischen Anziehung und Abstoßung, Jäger und Gejagtem. Susanne Stein lässt Blanche in ihren Glitzerkleidern (Kostüme Sabine Blickenstorfer) beinahe verzweifelt von den einst besseren Verhältnissen zehren, während ihr gleichzeitig das Leben förmlich zwischen den Fingern zerbröselt. Mit Wucht und Wut reißt Stanley die nur Schemen durchlassenden Vorhange in seiner Wohnung herunter. Das ist ein Kerl, bei dem Tacheles geredet wird. Urs Rechn gibt ihn als Blanches Widerpart mit kraftstrotzend-gewalttätigem Gehabe, das aber genauso schnell in sich zusammenfallen kann. Auch seine kleine Welt wird nie mehr so sein wie vorher.
Lebenslügen führen hier zur Katastrophe.

Uta Trinks und Reinhard Oldeweme, Freie Presse, 06.10.2008

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Alltägliches Grauen in hellem Licht

Enrico Lübbe inszeniert zum Einstand als Schauspielchef in Chemnitz "Endstation Sehnsucht"

Drei Menschen in auswegloser Lage, zu der sie allerdings sehr unterschiedliche Positionen einnehmen: Stanley Kowalski (Urs Rechn), ein Arbeiter polnischer Herkunft und stolzer Amerikaner, findet nicht, dass er ein Problem hat, solange die Pokerrunde zusammenkommt, das Geld für den täglichen Whisky reicht und seine Frau bereit ist, wann immer er Sex haben will.
Stella (Julia Berke) kommt aus besserem Hause, das aber längst pleite ist, sie liebt Stanley bedingungslos und hat ihren Absturz als so alternativlos akzeptiert, wie er ist. Anders Blanche (Susanne Stein), ihre Schwester, die den Statusverlust ebensowenig annehmen will wie ihre verblühte Jugend. Sie flüchtet in Alkohol, Lügen und Selbstbetrug, sie bietet sich als Opfer an und wird geopfert werden.
Das ist das Grundmuster von Tennessee Williams' Tragödie "Endstation Sehnsucht", ein zeitloser Bühnenklassiker, der kein modernes Tuning braucht, wenn man nur der Sprache des Autors und der Psychologie seiner Figuren folgt. Und genau dieses Muster ist es auch, das Enrico Lübbe, der neue Chef am Schauspiel Chemnitz, bei seinem Antritt mit chirurgischer Akribie unerbittlich freilegt - in einem weißen, spartanisch eingerichtetem Spielraum (Bühne: Hugo Gretler), konzentriert und frei von jeglicher Effekthascherei.
Das hochgestimmte Chemnitzer Publikum hat die Aufführung mit viel Beifall und sogar Bravorufen bedacht. Durchaus zu Recht und zugleich doch auch überraschend, denn Lübbe, an dessen hervorragende Hallesche Inszenierungen wie "Kabale und Liebe" man sich gern erinnert, treibt die Reduktion des Stoffes konsequent auf die Spitze und traut dem mündigen Zuschauer dabei einiges zu. Man geht wohl nicht fehl, dies als ästhetisches Programm für das Kommende zu verstehen.
So verlegt Lübbe die schreckliche Szene, in der Stanley seine Schwägerin Blanche vergewaltigt, hinter einen milchigen Vorhang, den eine Nachbarin der Kowalskis gnädig schließt - eine große Geste der Regie, Blanche einen Rest ihrer Würde zu bewahren.
Lübbes Lesart wirkt nur auf den ersten Blick spröde, die Dramatik wächst direkt aus den Dialogen und Gesten der sämtlich sehr guten Darsteller. Werktreue mag ja als altmodisch gelten - ein Synonym für Staub und Muffigkeit ist sie keineswegs. Was Lübbe einmal mehr bewiesen hat.

Andreas Montag, Mitteldeutsche Zeitung 06.10.2008

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Großes Premieren-Wochenende im Chemnitzer Schauspielhaus

Viel Beifall für drei schnörkellose Stücke

CHEMNITZ - Mit drei Premieren binnen 24 Stunden im Chemnitzer Schauspiel zu starten hatte zumindest einen Vorteil: Man lernte am Wochenende fast das gesamte neue Ensemble kennen. Fazit: Viel Beifall für drei schnörkellose Stücke, die unterschiedlicher nicht sein können und sich dennoch nur einem Thema widmen - dem Scheitern von Menschen an sich selbst beim Haschen nach ein bisschen Glück.

Gradlinige Tour zur "Endstation Sehnsucht"

Auf der Geburtstagstorte brennen Kerzen, so schief und krumm wie die Stimmung in der zusammengewürfelten Gesellschaft. Übrig bleiben nach der Party ein Häuflein Scherben und ein Häuflein Unglück, das "Feuer!" ruft und "Hilfe!" meint:Schauspielchef Enrico Lübbe bringt als Einstand erstmals "Endstation Sehnsucht" von Tennessee Williams nach Chemnitz. Und damit durchaus packendes Theater.
Williams verfrachtete 1947 die scheinbar altjüngferliche Lehrerin Blanche als ausdauernden Besuch zu ihrer schwangeren Schwester Stella. Beide - aus einst besserem Hause - finden sich nun in einer kümmerlichen Zweizimmerwohnung mit Stellas rechtschaffen arbeitenden, prügelnden wie vögelnden Ehemann Stanley und dem heiratswütigen Muttersöhnchen Mitch wieder.
Lübbe lässt den Konflikt zwischen ältlichem Damenglitzerkleid und neuzeitlichem T-Shirt geradlinig, verhalten, regelrecht genüsslich langsam und ohne Effekthascherei in einer amerikazaunweißen Buchte mit Plastikvorhängen (klare Bühne: Hugo Gretler) eskalieren. Dazu wohltuend sortiert ein paar Pokertypen, ein hippes dralles Knuddelgirl, ein Riesenplüschwaschbär ein zersplitterndes Radio, viel Whiskey und immer mal eine muskulöse Männerbrust. Abgesehen vom Zigarettengequalme ist man gern mittendrin in dieser haarigen Menschelei, wo nichts zusammenpasst, alles aneinander vorbeiredet und sich jeder eigentlich grundlos sein Leben vermasselt.
Wenzel Banneyer (Junggesellenlangweiler Mitch), Annett Sawallisch (meloneschmatzend als Eunice), Julia Berke (okay als Stella), Dirk Lange (locker als Steve) schlagen sich akzeptabel. Auch Susanne Stein als Blanche und Urs Rechn als Stanley: Wenn sie nach etwas Glück und einem verdatterten Kassierer grabscht, sind das wonnige Theatermomente. Wenn er sie aus den Augenwinkeln fixiert, dann ist das latente Gewalt, die auch erschreckend explodiert. Keine Endstation, denn "das Leben muss weitergehn", wird es aus Eunice rausplatzen. Das Premierenpublikum war durchweg gespannt und mucksmäuschenstill.

Ch. Hamann-Pönisch, Chemnitzer Morgenpost, 06.10.2008

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Zwischen Sehnsucht und dem Willen zur Tat

Chemnitz startet mit drei Premieren und einem neuen Schauspieldirektor in die Saison.

Zum ersten Mal wird sich Enrico Lübbe an diesem Abend vor den Chemnitzern verbeugen - als Regisseur des Spielzeitauftakts. Doch zuvor wird er sich den lang anhaltenden Applaus redlich verdienen, sein neues Ensemble wird sich die Bravorufe hart erarbeiten. Denn endlich wird auf dieser Bühne wieder erzählt. Mit "Endstation Sehnsucht" von Tennessee Williams bringt Lübbe nicht nur grundverschiedene Charaktere und die große Suche nach dem kleinen Glück aufs Tapet, er entfaltet vielmehr eine vielschichtige Auseinandersetzung zwischen den einzelnen Lebensentwürfen.

Auf engstem Raum zum Zusammensein gezwungen, gerät dann auch bald alles außer Kontrolle. Vor allem das längst verlorene Leben von Blanche. Susanne Stein hat als traumatisierte Diva einen wunderbaren Einstand. Eine durch und durch spannende Frau mit vielen Facetten. Gleichsam interessieren die anderen Spieler mit impulsivem Machogehabe, naiver Lust, verstockter Begierde. Der neue Schauspieldirektor hat also nicht nur inszenatorisch einiges vorgelegt, sondern auch ein sensibles Gespür bei der Wahl seines Ensembles bewiesen.

Jenny Zichner, Sächsische Zeitung, 07.10.2008

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Regieführung ist die wahre Gewalt

(...)
Zur programmatischen Eröffnung inszenierte er (Anmerkung: Enrico Lübbe) nun Tennessee Williams' "Endstation Sehnsucht" und ließ folgende Worte von Blanche DuBois auf das Programmheft sowie signalgrün auf eine feuerrote Wand im Theaterfoyer schreiben: "Ich will keinen Realismus. Ich will Zauber! Ich rede nicht von dem, was wahr ist, sondern von dem, was wahr sein sollte." Derlei dezidierten Idealismus wird Lübbe brauchen, wurde doch die Zahlungsunfähigkeit des Chemnitzer Fünf-Sparten-Theaters aufgrund des auslaufenden Haustarifvertrages erst durch einen Zuschuss der Stadt in Höhe von 600000 Euro im September abgewendet - wodurch die neue Saison mit Ulrike Syhas "Privatleben", einem Auftragswerk der Theater Chemnitz, mit Lessings "Emilia Galotti" und eben "Endstation Sehnsucht" ungestört beginnen konnte.

Für letzteres Drama hat Hugo Gretler einen schneeweißen, kahlen Raum entworfen, den Vorhangbahnen aus Kunststoff teilen. Ohne folkloristische Schatten, geradezu schmerzhaft überbelichtet wirkt die Geschichte von der verarmten Lehrerin Blanche, die Haus und Ruf verliert und verstört wie hochnäsig bei ihrer Schwester Stella Unterschlupf sucht, in der engen Wohnung bald mit deren grobschlächtigem Ehemann aneinandergerät und schließlich in einer Nervenheilanstalt landet. Spannend verdichtet erzählt Lübbe dies als taghellen Albtraum, in dem alle wie die gleißenden Wiedergänger ihrer eigenen Wünsche und Gelüste erscheinen. Susanne Stein gibt die gefallene höhere Tochter Blanche als gepeinigtes Phantom zwischen Pathos, Panik und Paranoia, Julia Berke ihre Schwester Stella als bodenständige Genussfreundin, Urs Rechn deren Mann Stanley als freilaufendes Energiebündel ohne Überspannungsschutz. Als er sich etwa einmal beim Pokern gestört fühlt, reißt er die Vorhänge herunter und tritt mit einem einzigen Absatzkick das Radio in tausend Trümmer. Zwischen solch plastischen Momenten nimmt sich die Inszenierung allerdings manchmal in ihrer verhalten elegischen Grundierung fast zu sehr zurück, als wollte sie den Zuschauern zurufen: Kommt her, wir wollen doch nur spielen, nicht beißen!
(...)

Irene Bazinger, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.10.2008

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Im Glauben an die Illusion (mit Kommentar)

Chemnitz, 3. Oktober 2008. Es werden vermutlich noch nicht viele Programmhefte gedruckt worden sein, von denen man sagen kann, dass sie eine ganze Passage aus Margaret Mitchells Südstaaten-Epos "Vom Winde verweht" enthalten. Man fahre also nach Chemnitz und lese! "Mit dem Trotz ihrer Vorfahren, die auch nie eine unausweichliche Niederlage hinnahmen, warf sie das Kinn empor."
Das ist nicht nur eine schöne Handreichung für das notorische Mitchell-Banausentum des Theaterbetriebs, sondern auch für den Besucher der Tennessee Williams-Inszenierung des neuen Chemnitzer Schauspieldirektors Enrico Lübbe (der zuletzt Hausregisseur in Halle war). In den zweieinhalb Stunden kann es nämlich durchaus passieren, dass ein Kinn geworfen wird, in die eine oder andere Richtung, jedoch hinreichend theatralisch.

Gehäuse ohne Privatheit
Eine mögliche Begründung dafür lautet: "Die Hölle, das sind die anderen." Das ist schon wieder ein Zitat aus dem Programmheft, nun aber nicht von Mitchell, sondern von Sartre, einem anderen Kenner menschlicher Verheerungen. In Chemnitz also geben sie "Endstation Sehnsucht" (1947), die erste Regiearbeit Lübbes an der neuen Wirkungsstätte, und dieser Abend wirkte schon bei der Premiere historisch.
Die Bühne von Hugo Gretler bleibt noch vergleichsweise unverbindlich. Sie besteht aus einem Wohnklo-Kasten, in dem, schön aufgeräumt, Mobiliarspärlichkeiten für Geringverdiener stehen. Die Enge ist beinahe zeitlos, die Tristesse mit einem irritierend strahlenden Weiß übertüncht. Bedarfsweise dient einer dieser halbtransparenten Plastikvorhänge, hinter denen normalerweise die Genitalien von Duschenden zur Unkenntlichkeit verschwimmen, als provisorischer Raumteiler. In diesem Gehäuse ohne Privatheit wird eine Frau verrückt. Man könnte sagen: nach alter Schule.

Zerstörerische Konfrontation
Tennessee Williams' Südstaaten-Klassiker "Endstation Sehnsucht" ist das Gruppenbild einer zerstörerischen Konfrontation zwischen Realismus und Romantik, jene allerdings schon in der Schwundstufe eines prekären Realitätsverlustes. Peinlich genau beleuchtet der Autor das Missverhältnis von erträumter und tatsächlicher Wirklichkeit.
Seine weibliche Hauptfigur Blanche duBois, dieses Bild einer tragischen Möchtegern-Lilie, hat sich darin häuslich eingerichtet. Das Verhängnis nimmt seinen Lauf, als Blanche bei ihrer Schwester Stella unterschlüpft. Stellas Mann Stanley ist ein Hausherr und Beherrscher von krachender Bodenständigkeit. Dem darf keiner was vormachen, schon gar nicht die Schwägerin. Auch Stanley ist eine Endstation. Soweit das Drama, das nun in Chemnitz irritierend manisch vom Blatt gespielt wird. Lübbe scheint sein Heil darin zu suchen, dem Stück nur ja nichts anzudichten. Sein Kammerspiel wirkt bisweilen, als wolle der Mann hinter dem Regiepult demnächst beim Texttreue-Fanatiker Peter Stein hospitieren.

Starren ins Textmuseum
Woher dieses rasende Vertrauen in die Vorlage? In die Aktualität ihrer moralischen Konflikte? In die Sprache? Und woher dieser ungebrochene Glaube an die perfekte Illusion der Bühne? Es geht nicht gut mit so viel Nichtregie, mit so viel Starren ins Textmuseum, mit so viel arrangiertem Herein-Heraus. Der Abend bleibt, auch in seiner merkwürdigen Bilderarmut, eine tendenziell kleine Angelegenheit ohne Sprengkraft. Der Sozialstudie merkt man es am deutlichsten an. Ihr kommt durch die tradierte Sittlichkeit - die feine Blanche ist heimlich mannstoll! - ein wichtiger Beweggrund abhanden.
In einer Gesellschaft, die sich eher über das neue Biedermeier der Jugend wundert, als über das sexuelle Freibeutertum angejahrter Frauen, hat eine Figur wie Blanche ihre Fallhöhe eingebüßt. So bleibt es bei einem Psychogramm über Einsamkeit und Sehnsucht, über materielle Enge und über die Frage, wie viel Selbstdesign und Autosuggestion das Individuum verträgt.

Verzweifeltes Lügentheater
Darstellerisch steht die Inszenierung auf solidem Grund. Susanne Stein zeigt ihre Blanche als den verzweifelt flatternden Schmetterling, dessen Absturz das Drama peinlich genau inszeniert. Ihr Lügentheater kennt die große Garderobe, die ständige Badflucht und den kräftigen Schluck aus der Pulle. Das Ätherische, Zerbrechliche, Feine an ihr steckt hinter der Maske einer ziemlich pathetischen Grande Dame. Alles in allem: viel Pelz, viel Pein.
Den machohaft dominanten Stanley von Urs Rechn darf man sich in der Nähe von Marlon Brandos legendärer Filmrolle vorstellen, wobei der Grobian etwas sozialverträgliche Ikea-Luft geschnuppert haben könnte. Seine Aggression ist aber von elementarer Plötzlichkeit. Die Szene, in der er wie ein Dampfhammer das dudelnde Kofferradio der Frauen zerstampft, gehört zu den stärksten des Abends.
Wenzel Banneyer nimmt man die grundehrliche Haut seines Blanche-Verehres Mitch gerne ab. Julia Berke mimt als Stella das robuste, abgeklärte Gör auf dem Weg zum Heimchen. Sie ist - zumal - das erkennende Wesen unter Eingesperrten, die ihre Freiheit auf inneren und äußeren Bühnen verlieren.

von Ralph Gambihler http://www.nachtkritik.de

KOMMENTAR
zur obigen Kritik von K.D. Müller auf http://www.nachtkritik.de

Chemnitz Endstation Sehnsucht: gemeinsames Erleben und Denken

Es ist schon verstörend dumm, wenn ein Kritiker meint, daß "richtige" Regie dem zu inszenierenden Stück erst die Zähne herausziehen müsse
(zugegebenermaßen von Verlagszahnarzt H.H.Fischer schlecht mit deutschen Plomben und fehlfarbenen Krönchen verhübscht und von der Verlagskrankenkasse mit Verbot der Nachbehandlung versiegelt, ohne Garantie auf Zahnersatz),
um dann plastisch das Gesicht zu liften, die Lippen aufzuspritzen und dann noch Implantate in die Brust zu schieben; weil das Stück gängigen (oder nicht etwa Ihren?) Schönheitsidealen standhalten muß --ein Gesicht hat keine Falten, die Lippen sind voll und die Brust hat Körbchengrösse D ---.
Wenn ich auf´s Maul schaue, muss ich damit rechnen, auch Löcher und schlecht sitzende Zähne zu sehen; nach 50 Jahren hängt auch die Brust mal mehr, mal weniger und die Lippen sind schön oder nicht, wenn ich sehe, WIE sie sich beim Reden BEWEGEN.

Was ist denn da historisch, wenn man versucht, Menschen zu sehen wie sie sind, ohne Arroganz der eigenen Ästhetik?
Es ist ehrlich, mehr nicht; die Schönheit liegt nicht im Auge, sondern im Denken des Betrachters!

Was steht jetzt hier in Chemnitz auf der Bühne?
Die Gedanken des Regisseurs, der sich über die Zeit erhebt, oder die Wirklichkeit, (das ist nämlich auch das Stück wie es ist) und sowohl das Publikum als auch die Schauspieler ERLEBEN sie und DENKEN GEMEINSAM darüber.

Die KONKLUSION des Abends ist hier KEINE SETZUNG des Regisseurs vor dieser ARBEIT(!), weil er das Publikum für blöde hält und ihm etwas beibringen will, sondern das gemeinsame ENTDECKEN widersprüchlicher Haltungen und gemeinsames ÜBERPRÜFEN der eigenen WIRKLICHKEIT.

Ich hatte Zahnschmerzen, als ich diesen Abend erlebte. Da diese Arbeit kompetent und ehrlich ist, erfuhr ich, woher sie rührten: sie entstammten dem Erleben und machten sich in Gedanken dingfest.
Großartig!
Eine erhebende Arbeit der Menschen auf der Bühne, des Publikums und des Regisseurs an diesem Stück!

Setzen Sie sich damit ins Verhältnis, lieber Kritiker!!!

Sie zeigen Ihre Zähne nicht; Sie schreiben ohne Nährwert!
Erleben Sie bevor Sie denken, essen Sie bevor Sie verdauen, kauen Sie bevor Sie schlucken!
(Damit Sie morgen wieder kraftvoll zubeissen können)

Ihr
K.D.Müller

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Weiß getünchte Wände. Neonlicht. Haibtransparente Plastikvorhänge.

Stella hat vor Jahren den polnischen Einwanderer Stanley geheiratet. Die beiden kommen ganz gut miteinander klar. Er hat das Sagen, trinkt und vögelt gern, pokert oft mit Freunden. Sie ist ihm irgendwie verfallen, arrangiert sich. Dann reist ihre Schwester Blanche an, eine verblühte Südstaatenlady mit höherer Bildung. Und der Kampf beginnt. Auf engstem Raum zum Zusammensein gezwungen, gerät bald alles außer Kontrolle.Vor allem das längst verlorene Leben von Blanche. Susanne Stein hat als traumatisierte Diva einen herrlichen Einstand. Zwischen beißendem Zynismus und flehendem Flüstern verschafft sie sich ebenso viel Verachtung wie Mitleid. Besonders im Konflikt mit ihrem Schwager ist sie zu allem entschlossen, unberechenbar, zerrissen. Denn Urs Rechn zeigt Stanley als blanke Provokation. Seine Haltung, sein Blick - alles nur Gewalt, Verachtung, Wut. Und wenn er dann urplötzlich das nervige Radio zertritt, kriegt das Geschehen sogar Wucht. Eine explosive Kraft, die Regisseur Enrico Lübbe ansonsten eher meidet. Er lässt die grundverschiedenen Charaktere statt dessen fast mit Überlegung toben, was der Inszenierung ein bisschen das Adrenalin nimmt. Und doch entfaltet er eine wunderbar vielschichtige Auseinandersetzung zwischen den einzelnen Lebensentwürfen, die letztlich ein gemeinsames Ziel haben: das kleine Glück.

Jenny Zichner, Stadtstreicher Chemnitz, 11.2008

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  Erstellt am 20.06.2015