Bertolt Brecht / Kurt Weill
|
||
"Die Dreigroschenoper" | ||
Premiere
am 30. September 2011
|
||
Musikalische Leitung: Anja Bihlmaier | ||
Regie: Philip Tiedemann | ||
Ausstattung: Norbert Bellen |
Sie wissen nicht, wie Sie auf dem umkämpften Markt des Mitleids bestehen sollen? Dann gehen Sie zu Mr. Peachum, der kann Ihnen helfen. Mr. Peachum ist der Marktführer im Mitleidsgewerbe, und jeder kann bei ihm zum Franchise-Partner werden - ein fairer Handel ist Basis des Geschäfts: Augenklappe gegen Gewinnabgabe, Holzbein gegen Schutzgebühr. Denn wer Peachums Lizenz zum Betteln nicht besitzt, der wird vom Markt genommen. Ganz London ist aufgeteilt, und an jeder Ecke bittet um eine milde Gabe - ein freier Mitarbeiter der J. J. Peachum-Company. |
||
Mackie Messers Geschäft hingegen ist anders gelagert: Diebstahl, Raub und Mord. Mackies letzter Raub galt einem besonders kostbaren Schatz - des Peachums schöner Tochter Polly. Eilig wird geheiratet unter dem Mond von Soho, denn Papas Zustimmung, soviel ist klar, wird Polly für diese Ehe niemals kriegen. Polly hätte auf ihren Vater hören sollen - denn schon die Nacht nach der Hochzeit ist Mackie wieder dort, wo er am liebsten ist: bei den Huren um Spelunken-Jenny. Peachums Rache folgt sofort, mit List und Bestechung und seinen hervorragenden Kontakten zur Obrigkeit will er Mackie Messer aufs Schafott bekommen. Doch die Obrigkeit - zuletzt gesehen wurde sie auf der Hochzeit Mackie Messers ... Text - Theater Chemnitz !!! |
||
Die Premiere spielten: | ||
Jonathan
Jeremiah Peachum,
Chef einer Bettlerplatte
|
-
|
Urs Rechn |
Frau
Peachem
|
-
|
Ulrike Euen |
Polly
Peachem,
ihre Tochter
|
-
|
Caroline Junghanns |
Macheath,
Chef einer Platte von Straßenbanditen
|
-
|
Dirk Lange |
Brown,
Polizeichef von London
|
-
|
Bernd-Michael Baier |
Lucy,
seine Tochter
|
-
|
Daniela Keckeis |
Trauerweiden-Walter
|
-
|
Jan Sabo* |
Hakenfinger-Jakob
|
-
|
Yves Hinrichs |
Münz-Matthias
|
-
|
Wenzel Banneyer (Premiere spielte Philip Tiedemann) |
Säge-Robert
|
-
|
Timo Hastenpflug* |
Filch,
einer von Peachums Bettler
/ Smith, erster Konstabler
|
-
|
Nils Buchholz* |
Spilunken-Jenny,
Hure
|
-
|
Muriel Wenger |
Betty,
Hure
|
-
|
Luise Schubert* |
Dolly,
Hure
|
-
|
Katharina Schlothauer* |
Moritatensänger
/ Pastor Kimbal / Reitender
Bote
|
-
|
Karl Sebastian Liebich |
Sprecher
|
-
|
Michael Degen |
Orchester
|
-
|
Mitglieder der Robert-Schumann-Philharmonie und Gäste |
* Studenten der Hochschule für Musik und Theater "Felix Mendelssohn Bartholdy" Leipzig am Studio Chemnitz |
||
KRITIK: Gut gespielt!
Die "Dreigroschenoper" in Chemnitz: Vor allem ist das Theater, oben Spiel und unten Vergnügen, ganz recht. Und echt, Oper nämlich. Brechts Kraut erhält von Kurt Weills hinreißender Musik das Fett, den Geschmack. So ist also angerichtet, doch wie wird's serviert? Mit allen Raffinessen der Suppenküche. Es ist ein wahres Schlemmen, laut Brecht: Erst das Fressen, dann die Moral. Und wenn die Moral an die Reihe kommt, dann steht sie auf dem Kopf der Wirklichkeit. Unterwelt ist obenauf. Denn in der Chemnitzer Inszenierung geht Regisseur Philip Tiedemann geradlinig von Brecht aus und zu ihm hin. Was bei Brecht als Ironie gedacht war, liegt bei Tiedemann blank - die Verhältnisse sind so. Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm und leistet sich Moral. Nämlich die Herren Peachum mit seinem Komplettangebot: Betteln nur mit einer Lizenz von ihm, und Mackeath mit seinem Trust von Räubern, Mördern und Erpressern. Reiche Leute, beide. Und auf der Chemnitzer Bühne sind beide keine Ausnahmefälle, sondern Typen. Sie verkörpern die Verhältnisse. Die Ironie wird schauerlicher Sarkasmus. Nichts ist neu, alles bekannt. Kein Vorhang dazwischen. Oper nach Buchstaben Durch die Bank alle
spielen dabei gut, singen gut. Gerade mit Unglaubwürdigkeit zu
überzeugen, das macht die Kunst: Urs Rechn als Peachum etwa heuchelt
derart verborgen, dass der gerissene Gauner umso näher liegt. Dirk
Lange als Mackeath ist ein sympathischer Gangsterboss, ihm fliegen die
Frauen und die Scheine nur so zu. Sein Messer sieht man nicht. Höchst
gefährlich. Die Frauenrollen - zwei sind Mackeaths Bräute
Polly (Caroline Junghanns) und Lucy (Daniela Keckeis), Tochter Peachums
die eine, das Kind des Polizeichefs die andere. Wie die sich in die
Haare kriegen! Alle übrigen sind Huren, mit denen Frau Peachum
(Ulrike Euen) gemeinsame Sache macht, um Mackeath - für Geld natürlich
- zu verraten. Zusehen und Zuhören ist hier reines Vergnügen. Weills Musik-Zauber ist einer Kapelle von Straßenmusikern (so sehen sie aus) anvertraut, und die spielen wie Philharmoniker (das sind sie in Wahrheit). Die Songs, Moritaten, Balladen, fließen durch die Ohren, wo sie fast alle längst sowieso schon drin sind (der "Haifisch", der "Kanonensong", die "Seeräuberjenny" und so weiter). Jazz, Salon, Tango, Rummelklang und reiner Kitsch (weihevolles Elend auf einem rollenden Harmonium). Die Bühne - eine geniale Idee: Nur Buchstaben in riesigen Lettern, sie formieren am Anfang den Titel - "Die Dreigroschenoper". Die ganze Spielfläche voll Buchstaben, doch sie stürzen um, werden durcheinander geschoben, sind Traualtar, Peachums Schreibsekretär, Gefängniszelle, Galgen, das C wird umgelegt zur Liebesschaukel. Das ist die große Bühne mit dem großen Theaterspiel. Reinhold Lindner, Freie Presse, 04.10.2011 ___________________________________________________________
Chemnitzer,Dreigroschenoper' ist jeden Cent wert Wurm im Karpfenteich CHEMNITZ - Ist das romantisch: Da schaukelt sacht das frischgetraute Ehe- und zugleich Traumpaar des Abends auf einem Lotterbett aus einem umgekippten C, und der gehemmte Gatte fragt sein erwartungsfrohes Weibchen: "Siehst Du dort den Mond?" Das soll die Schlampe Polly, das soll der blutgierige Mackie Messer sein? Philip Tiedemann sieht das heiter, hat sich die Bühne mit den 19 Buchstaben "Die Dreigroschenoper" vollstellen lassen (Ausstattung: Norbert Bellen) und das Brecht/Weill-Stück (1928) als außerordentlich bissige Gesellschaftssatire gezündet - offenbar sehr zur Freude des fast durchweg euphorischen Premierenpublikums im Schauspielhaus. Die
Buchstaben sind Schreibsekretär, Knast oder Galgen. An den will
der schmierige Sozialheini Peachum Mackie bringen, weil der mit Peachums
Tochter Polly - siehe Lotterbett. Hups, entleert sich ein Ballon, die Luft ist raus - aus Leuten, Leben, Gesellschaft, aber nicht aus der Inszenierung. Ch. Hamann-Pönisch, Chemnitzer Morgenpost, 04.10.2011 ___________________________________________________________
Brecht,
groß geschrieben Der Moritatensänger singt. Die Schauspieler spielen sich ein, schieben, tragen, rollen erst mal diese 19 großen Buchstaben von der Bühne: DIE DREIGROSCHENOPER kann beginnen. Und Regisseur Philip Tiedemann hat nicht nur ein eindrucksvolles Vorspiel entworfen. Der überlegte Umgang mit den plakativen Lettern geht weiter. Das O wird zum Mond über Soho, das C zur Schaukel, das H zur Hürde Überhaupt folgt seine Inszenierung am Schauspiel Chemnitz einem intelligent-unterhaltsamen Konzept, das rundum aufgeht. So bekommen die provozierenden Brecht-Szenen einen ebenso verschmitzten Charme wie modernen Drive, während die bekannten Songs von Kurt Weill ordentlich schmettern. Da passt die Straßenmusiker-Attitüde der Robert-Schumann-Philharmoniker im Background einfach blendend zu den durchweg trefflichen Stimmen der Protagonisten. Da passt das funktionale Bühnenbild-ABC von Norbert Bellen einfach wunderbar zu den überraschenden Wendungen der Geschichte. Und da passt der trockene Humor der Truppe einfach großartig zum Milieu: zur Fehde zwischen dem Bettler-Boss Mr. Peachum und dem berühmt-berüchtigten Gangster Macheath. Der Streit hat einen einfachen Grund. Macheath heiratet die schöne Polly Peachum, freilich ohne die Zustimmung der Eltern. Die bringen den Meisterdieb kurzerhand hinter Schloss und Riegel. Einziges Hindernis: Polizeichef Tiger-Brown, ein alter Freund von Macheath. Ein paar Bordellbesuche und eine Erpressung später wird der Gauner doch noch zum Tode verurteilt und hält seine berühmt-berüchtigte Rede mit der nach wie vor aktuellen Frage: "Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?" Natürlich. Solch einen weitsichtigen Mann lässt Brecht nicht umkommen und schickt noch einen reitenden Boten: "Damit ihr wenigstens in der Oper seht / Wie einmal Gnade vor Recht ergeht." Tosender Beifall Da setzt in Chemnitz nach reichlich Szenenapplaus dann tosender Beifall ein. Weil die zweieinhalb Stunden um Geld und Moral, um Werte und Wesenszüge unserer Gesellschaft voller Esprit und Ideen über die Bühne gingen. Dabei spielte die Inszenierung locker mit dem Brecht'schen Theaterkosmos, ist natürlich weitreichend episch und voller Verfremdungen - und grandios besetzt. Dirk Lange verschafft Macheath hinreißende Gelassenheit. Ulrike Euen treibt Frau Peachum herrlich naiv und gerissen in die Aufregung. Caroline Junghanns zeigt als Polly, was ein ausgekochtes Weib ist. Und Urs Rechn macht den Chef im Mitleidsgewerbe zum Wolf im Schafspelz. Mit solch einem Saisonauftakt auf der Großen Bühne hängt die Messlatte in Chemnitz gleich ordentlich hoch. Jenny Zichner, Sächsische Zeitung, 06.10.2011 ___________________________________________________________
Wohltemperierter
Brecht Dabei traf der Regisseur mit der Verpflichtung seines Ausstatters Norbert Bellen eine mehr als überzeugende Wahl. Bellen wuchtet den Titel des Werks in überdimensionalen Lettern auf die Bühne, Lettern, die je nach Bedarf ein Lotterbett, einen Kerker oder gar den Galgen andeuten - ein gelungener Wurf, der mit wenig Aufwand maximalen Effekt erzielt. Im Bühnenhintergrund musizieren Mitglieder der Robert-Schumann-Philharmonie samt einiger Gäste unter Anja Bihlmaiers umsichtiger Leitung einen Weill ohne Fehl und Tadel, der freilich infolge dieser Platzierung einiges an unmittelbarer Wirkung einbüßt. Ist es seit geraumer Zeit umstrittener Brauch geworden, den Klassikern ein nicht immer kleidsames modernistisches Gewand überzustülpen, bietet sich bei Brecht ein solche Aktualisierung durchaus an. Die derzeitigen Krisen unserer Gesellschaft schreien sogar förmlich danach. Tiedemann hält sich in der geringfügig eingestrichenen Fassung an das Original, inszeniert eher vom Blatt, verweigert dadurch dem Stück den ihm eigenen Biss und das (hauptsächlich vor der Pause) erforderliche Tempo. Da zieht sich so manches über Gebühr in die Länge. Zudem bleibt Dirk Lange seinem Macheath etliches an erotischer Ausstrahlung schuldig, hebt sich als Persönlichkeit zu wenig von den Mitgliedern seiner Gang ab. Dagegen verhalf Urs Rechn dem Bettlerkönig Peachum mit seiner von manchem Klischee abweichenden Sicht zu einem interessanten Profil. Und auch Bernd-Michael Baier überzeugt dank schön abgestufter darstellerischer Details als Polizeichef Brown. In einer kleinen, aber wichtigen Aufgabe machte der Student Nils Buchholz als Bettler Filch auf sich aufmerksam. Die beteiligten Damen Caroline Junghanns (Polly), Muriel Wenger (Jenny), Daniela Keckeis (Lucy) und Ulrike Euen (Frau Peachum) brachten sich im Rahmen der ihnen vorgegebenen Möglichkeiten nach Kräften ein, wobei den beiden letztgenannten gesanglich denn doch einige Grenzen gesetzt waren. Eine Inszenierung, bei der zum Beispiel der Kanonensong lediglich als umwerfende musikalische Nummer wahrgenommen wird, muss sich allerdings der Frage stellen, ob als Gesamtergebnis nicht mehr als ein wohltemperierter Brecht möglich gewesen wäre. Joachim Weise, Blitz!, 15.11.2011
|
Erstellt am 20.06.2015 | |||